Demos und Monarch - booksnow.scholarsportal.info
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MORBIDE VOLKSPSYCHE 65<br />
ihn an <strong>und</strong> lauschen seinen prophetischen Worten, um zu lernen,<br />
welcher Pfad zum Heile führe. Er gibt Orakel, heilt Krankheiten,<br />
<strong>und</strong> das Volk, das sich vor ihm in Schmerzensqualen<br />
windet, blickt zu ihm auf als zu einem Erlöser.<br />
Gemeinden scharen sich zusammen, um aus einem geheimen<br />
Glauben Kraft fürs Leben zu gewinnen. Die jonische Philosophie<br />
hatte dem Volk nichts zu geben. Die Macht der mystischen<br />
Strömungen spiegelt sich in Stücken wie im Hippolytos<br />
<strong>und</strong> in den Bacchen des Euripides wieder.<br />
Nehmen wir all das, was wir in flüchtigen Strichen hier<br />
angedeutet haben, zusammen, so entsteht das Bild einer „morbiden<br />
Volkspsyche" von ausserordentlicher Reizbarkeit. In<br />
diesem endlosen Auf <strong>und</strong> Ab der Sorgen <strong>und</strong> Hoffnungen, der<br />
Liebe <strong>und</strong> des Hasses, der gesteigerten Angstgefühle ist auch<br />
der Machtwille zu verstehen, der sich als Pleonexia darstellt.<br />
Die Individuen isolieren sich ; wer nicht auf alles Irdische<br />
verzichten <strong>und</strong> als Orphiker oder Pythagoreer an den Ausgleich<br />
in der Transzendenz glauben kann, der muss sich selbst<br />
genügsam werden, muss im Wogenprall des Unglücks <strong>und</strong> der<br />
Gefahr auf eigenen Füssen stehen können, muss reich sein.<br />
Hier mündet ein zweites ein. Wenn die Zukunft droht, wenn<br />
man nicht weiss, an welchen Strand die kriegerische Zeit das<br />
Lebensschiff verschlagen wird, was liegt da näher als die<br />
Mahnung: „Nütze den Tag." Die Genusssucht solch aufgeregter<br />
Zeiten ist eine intrapsychische Umstellung der Todesfurcht.<br />
Das ist für Thukydides ganz klar. Als er Athen zur Pestzeit<br />
schildert^), sagt er: „Da die Menschen nicht wussten, was aus<br />
ihnen werden sollte, verfielen sie, von Unglück überwältigt,<br />
unterschiedslos einer Geringschätzung alles Göttlichen <strong>und</strong><br />
Menschlichen. Ohne sich irgendwie zu scheuen, wagte man,<br />
was man sonst, ohne sein Gelüste offen zu befriedigen, verheimlicht<br />
hatte, da man den raschen Wechsel des Schicksals<br />
sah, <strong>und</strong> Zeuge davon war, wie die Reichen plötzlich wegstarben<br />
<strong>und</strong> wie die, die vorher nichts hatten, schnell in den<br />
Besitz ihrer Güter kamen. Daher wollte man sich einen<br />
1) 2, 52; 53.<br />
Strohm, <strong>Demos</strong> <strong>und</strong> <strong>Monarch</strong>. 5