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ANK_Jugendliche_Schule_Beruf2008.18878.pdf - Die Senatorin für ...

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96 Vier Geschichten vom Überleben in der Warteschleife<br />

Christian<br />

›Ich bin in Lilienthal aufgewachsen‹, erzählt<br />

Christian und gibt gleich die Information, die<br />

er <strong>für</strong> die wichtigste hält, um sein jetziges<br />

Leben zu verstehen. ›Da musste ich weg, weil<br />

ich da ziemlich bekannt bin. Habe sehr früh<br />

ziemlich viel Mist gebaut.‹ Vielleicht betont er<br />

das so, weil er weiß, dass man diesen lustigen,<br />

spitzbübischen Augen zwar jede Menge<br />

Jungenstreiche zutraut, aber doch keine Einbrüche<br />

und <strong>Die</strong>bstähle. Stolz ist er bestimmt<br />

nicht drauf, aber er steht zu seiner Vergangenheit,<br />

da gibt es nichts zu beschönigen.<br />

Dabei ist er ganz schön hoch eingestiegen.<br />

›Ich hatte nach der Orientierungsstufe eine<br />

Empfehlung <strong>für</strong> die Realschule, bin aber aufs<br />

Gymnasium, weil meine Freunde auch dahin<br />

gegangen sind.‹ Und weil er einen Berufswunsch<br />

hatte, <strong>für</strong> den er das Abitur braucht.<br />

›Ich wollte immer Tierarzt werden, aber das<br />

hat sich schnell erledigt, als es den Bach runterging.‹<br />

Obwohl er nur in Mathe und Latein<br />

eine Fünf einfährt, merkt er, dass er am Gymnasium<br />

verkehrt ist, und geht nach einem Jahr<br />

freiwillig runter. ›Wenn ich mich angestrengt<br />

hätte, hätte ich es vielleicht<br />

schaffen können. Aber irgendwann<br />

kippte das um und<br />

›Ich bin zufrieden, es hat ich hatte nur noch Streit mit<br />

sich schon viel geändert. den Lehrern‹, erinnert sich<br />

Früher war ich im<br />

der heute 20-Jährige. ›In der<br />

Heim, habe nur gekifft siebten Klasse fing das dann<br />

und gesoffen.‹<br />

halt an.‹ Im Wörtchen ›das‹<br />

scheint der Schlüssel zum<br />

Verständnis seines bisherigen<br />

Lebens zu liegen. ›Das‹ – das<br />

ist der ganze Mist, den er dann machte, der<br />

ihn in Ausnüchterungszellen, vor Gerichte, zu<br />

Sozialdiensten und ins Heim brachte. ›Das‹ –<br />

ist aber auch der Abwärtsstrudel, der ihn<br />

erfasste, ohne dass er die Gründe da<strong>für</strong> richtig<br />

kapierte.<br />

Doch benennen lassen sich die runterziehenden<br />

Kräfte: getrennte Eltern, schlechter<br />

Umgang, verständnislose Lehrer. ›<strong>Die</strong> haben<br />

sich nur gezeigt, wenn es Probleme gab.‹ In<br />

der Realschule hagelt es <strong>für</strong> den aufmüpfigen<br />

Jungen Schulverweise, bis er schließlich ohne<br />

Abschluss auf der Straße steht. ›Wenn es<br />

nicht auf so einer Bahn geht, dann muss ich<br />

mein Geld eben anders machen‹, denkt er<br />

sich. Trotzdem geht er nicht völlig unter. Ein<br />

Teil seiner heranwachsenden Persönlichkeit<br />

wehrt sich gegen das Ertrinken. Auf einer<br />

berufsbildenden <strong>Schule</strong> in Osterholz-Scharmbeck<br />

macht er seinen Hauptschulabschluss<br />

nach, jobbt nebenbei in einem Futtermittelbetrieb<br />

und schreibt Bewerbungen <strong>für</strong> eine<br />

Ausbildung im Einzelhandel.<br />

Und tatsächlich – nach einer Reihe von<br />

Absagen gibt ihm der Betrieb, in dem er<br />

neben der <strong>Schule</strong> gejobbt hat, einen Ausbildungsplatz<br />

zur Fachkraft <strong>für</strong> Lagerlogistik. Leider<br />

lassen ihn die Menschen aus seinem anderen<br />

Leben, in dem ›das‹ immer wieder passiert,<br />

nicht aus ihren Klauen. Und so hat auch<br />

Christians Leben einen dramatischen Höhepunkt:<br />

Er wird mit fünf Messerstichen schwer<br />

verletzt. Von den Wunden hat er sich zwar<br />

schon erholt, als er seine Lehrstelle antritt,<br />

dennoch bittet ihn sein Chef noch vor Ende<br />

der Probezeit zu einem Gespräch. ›Angeblich<br />

soll ich nicht richtig auf die Kunden zugegangen<br />

sein‹, sagt Christian und hält das lediglich<br />

<strong>für</strong> einen Vorwand. ›Mein Chef hat mich<br />

rausgeschmissen, weil er von anderen Leuten<br />

erfahren hat, dass ich früher viel Scheiße<br />

gebaut habe.‹<br />

Danach ist <strong>für</strong> ihn endgültig klar, dass sich<br />

etwas grundsätzlich ändern muss. In Bremen<br />

versucht er nun, die Schatten seiner Vergangenheit<br />

hinter sich zu lassen. Bisher mit<br />

Erfolg. ›Ich bin zufrieden, es hat sich schon<br />

viel geändert. Früher war ich im Heim, habe<br />

nur gekifft und gesoffen.‹ Bis zu zehnmal im<br />

Monat bewirbt er sich, meist als Lagerlogistiker<br />

– einmal ist er bisher zum Eignungstest<br />

durchgedrungen. Bei NAHlos bereitet er sich<br />

auf ein Praktikum im Gesamthafenbetrieb und<br />

einen In-Job vor, bewirbt sich aber gleichzeitig<br />

auch <strong>für</strong> Jobs als Lagerarbeiter. ›Das würde<br />

sich im Lebenslauf gut machen.‹ In Bremen<br />

hat er eine eigene Wohnung, einen guten<br />

Freund und ein paar kleine Träume gefunden.<br />

›Arbeit, ein bisschen Geld und die richtige<br />

Frau. Da<strong>für</strong> braucht man Glück, aber ich bin ja<br />

noch jung.‹

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