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Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

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Thu Van Tran — Leben im Glanz<br />

Sonnenaufgang, Mittag, Sonnenuntergang: Über drei Kapitel<br />

führt die gebürtige Süd-Vietnamesin Thu Van Tran im MAMAC in<br />

Nizza durch ihr Werk. Es setzt die Verführungskraft des Schönen<br />

ein und äusserst präzise handwerkliche Arbeit, um die politische<br />

Realität ins Bewusstsein zu bringen.<br />

Nizza — Wolken, undurchdringlich, wie dicker Nebel, beissend. In drei Fresken versucht<br />

der Blick, sich anzuheften, rutscht ab, verliert sich im Farbvolumen. Sechs oder<br />

mehr Farben hat die Künstlerin übereinandergelegt. Sie spricht von ihnen wie von<br />

Agenten ihrer Arbeit: «Ich habe dem Nickelgrün vertraut, das ich eigens aus den USA<br />

mitgebracht habe, es beruhigt die anderen Farben, ohne zu dominieren.» Aus wolkigem<br />

Grau leuchten die Schichten hervor. Zeigt das eine Farbexplosion? – Nein: «Hier<br />

geht es in keinem Fall darum, etwas darzustellen.» Vielmehr um eine beklemmend<br />

konkrete ästhetische Erfahrung: Die Farben, welche Thu Van Tran (*1979, Hanoi) für<br />

ihre erste Soloschau in Frankreich auf die Wände des MAMAC aufgetragen hat, entsprechen<br />

den Farbcodes verschiedener Dioxine, die das US-amerikanische Militär ab<br />

1961 auf südvietnamesische Stellungen versprühte. Das sprichwörtlich gewordene<br />

«Agent Orange» zerstörte Tausende Hektar Urwald, bis heute leidet die Bevölkerung<br />

unter Spätfolgen. «Eine Studie hat ergeben, dass der Boden bis zu dreissig Meter tief<br />

mit Dioxinen verseucht ist.» Das erzählt die Künstlerin sichtlich bewegt, man merkt,<br />

dass es ihr ums ganze Ökosystem, unser Handeln und unsere Aufgabe, die nicht immer<br />

frei gewählt ist, geht: Ihre Familie zapfte noch in den Kautschukplantagen Süd-<br />

Vietnams das «weisse Gold» aus den Bäumen, mit dem die Künstlerin nun in Nizza<br />

gearbeitet hat.<br />

Monate hat die Wahl-Pariserin, die 2020 auch im Kunsthaus Baselland vorgestellt<br />

wurde, an einer grossen Zeichnung gearbeitet, am Explosionsrauch, der auf die Betrachtenden<br />

zurollt. Dann setzte sie mit Sprühfarbe eine Reihe von fünf Punkten.<br />

Grell läuft die Farbe über die delikat grauen Schraffuren: ‹Arc-en-ciel d’herbicides›.<br />

Gewalt und Schönheit, das alte appollinische Paar, Thu Van Tran weiss es zu nutzen.<br />

Sie lotet tote Winkel des Kolonialismus mit teils modernistischer Geste aus. Bedeutungsvoll<br />

fügt sie ein Händepaar zur auffangenden Geste, daneben eine Faust. ‹Récolte<br />

– révolte› sind für die Künstlerin enge Verwandte. Über ‹L’étincelle›, einem 2018<br />

in Bronze gegossenen Arm einer Zehnjährigen, die Faust geballt, verläuft seitens<br />

der Wand eine Schweissnaht wie eine Narbe. Thu Van Tran rekonstruiert sehr präzise<br />

Tat hergänge der Moderne, lotet sie mit persönlich Erlebtem und Biografischem<br />

aus, transformiert sie zu dichten, poetischen Formen. Ihre empfindsamen Resonanzflächen<br />

klagen nicht an, wollen nicht überzeugen. Sie machen mit durchdringender<br />

Traurigkeit erfahrbar, was den modernen Menschen ausmacht. J. Emil Sennewald<br />

→ ‹Thu Van Tran – Nous vivons dans l’éclat›, MAMAC, bis 1.10. ↗ mamac-nice.org<br />

104 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>

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