Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

24.06.2023 Aufrufe

Wie ein Vorbote zur Ausstellung hängt im Treppenhaus des Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen die Arbeit ‹Pozzo di San Patrizio›, 2023. Ein hochformatiges Glas ist mit einer Zinnfolie so beschichtet, dass sich darin die Besuchenden ebenso wie Bilder und Raum spiegeln, ohne dass genaue Konturen erkennbar wären. Reto Müller (*1984) nutzt dafür eine alte Technik aus der Schriftenmalerei, bei der die Zinnfolie als Schablone diente. In seinem Werk hat er sie nun zu einer Art Hinterglasmalerei umfunktioniert. Die monochrome Fläche mit feinen Arbeitsspuren suggeriert Bildhaftigkeit. Als Spiegel verleitet das Exponat ausserdem zu einer metaphorischen Lesart: Es lässt Assoziationen zu den anderen Objekten und Werken des Museums zu, das mit Naturgeschichte, Archäologie sowie Kunst vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart eine grosse thematische Bandbreite unter einem Dach versammelt. Vielleicht spielt der Künstler auch darauf an, wenn er seine Ausstellung ‹Le nombril du monde› (Der Nabel der Welt) betitelt. Künstler und Ausstellungsmacher Der Blick durch die grossen Fenster des Treppenhauses fällt auf den Industriebau, in dem von 1982 bis 2014 die Hallen für Neue Kunst beheimatet waren. Unter anderem als Standort der letzten von Joseph Beuys selbst eingerichteten Arbeit ‹Das Kapital Raum 1970–1977›, verstand sich die Institution als Nabel der Welt für neue künstlerische Tendenzen. «Die Temporalität und das Selbstverständnis einer Institution faszinieren mich. Heute ist es zum Beispiel normal, dass Kunst in ehemaligen Industriehallen ausgestellt wird, Anfang der 1980er-Jahre war das revolutionär. Hier leuchtete ein Ort auf der internationalen Landkarte auf, und nun ist er wieder weg», erzählt Reto Müller, der neben seiner künstlerischen Tätigkeit seit Kurzem auch die Co-Leitung des Kunstraum Kreuzlingen innehat, wobei sich diese beiden Bereiche bei ihm gut zu ergänzen scheinen. So versteht er auch die Platzierung seiner Werke als Teil des künstlerischen Prozesses. Zudem fussen seine Arbeiten auf fundierter Kenntnis von Materialien und Verarbeitungstechniken, die er in Recherchen stetig weiterentwickelt. Im Rahmen einer Residency am Istituto Svizzero in Rom hat sich Müller unter anderem mit der Transformation und Umdeutung von etruskischem Goldschmuck und Säulen beschäftigt: «Alle drei Glas-Arbeiten in der Schaffhauser Ausstellung benennen im Titel Orte, welche kulturelle Zentren früherer Zeiten markieren und Bezüge zu existierenden Säulenmotiven herstellen. So etwa zum ‹Umbilicus urbis›, der als runder Nabel die Ober- und Unterwelt verband und in Rom als Mittelpunkt der Welt galt.» Eine Säule aus Basalt Im Wechselsaal und im Kabinett des Museum zu Allerheiligen dekliniert der Künstler das Thema der Säulen anhand verschiedener Formen und Materialien durch. Zwei Glasscheiben im hellen Wechselsaal sind so an die Wand gelehnt, dass sich darin das natürliche Oblicht der grossen Fensterfront spiegelt. Zwar nicht mitten im Raum, aber doch zentral, steht die ‹Säule für Schaffhausen›, 2023. Sie ist aus FOKUS // RETO MÜLLER 67

gegossenen Basalt-Elementen gefügt und erstreckt sich mit über fünf Metern Höhe vom Boden bis zur Decke. Es entsteht der Eindruck, dass die Säule ohne Anfang und Ende über den Raum hinauswachsen könnte. Das Objekt ist Teil von Müllers fortlaufender Serie ‹Potentielle Normaliensammlung› und wie viele seiner Werke aus leicht adaptierten Standardformen gefertigt. So wurde der Basalt in einer Industriegiesserei in Polen zu Rohrelementen gegossen, woraus der Künstler dann die Säule errichtet hat. Ein entscheidendes Moment dieser Arbeit liegt im Transformationsprozess, der ins Material eingeschrieben wird. «Das Millionen Jahre alte Gestein wird innerhalb von kürzester Zeit in eine neue Form gegossen und kann nun potenziell über Jahrtausende in dieser Form und in diesem Aggregatzustand verharren», erklärt Müller. Er sieht im Vorgang von Erstarrung, Abformung und Umformung auch Parallelen zu kulturellen Aneignungsprozessen historischer Monumente wie der Trajansäule in Rom. Das Marmordenkmal ist aussen mit einem spiralförmig aufsteigenden Fries geschmückt, der Szenen aus dem Krieg Kaiser Trajans gegen die Daker idealisiert, und wurde zum Vorbild für zahlreiche Ehren- und Siegessäulen von der Antike bis in die Gegenwart. Mit der begehbaren Wendeltreppe im Inneren der Trajansäule ist hier zudem ein Symbol für Transzendenz an die steinerne Materialität geknüpft – ein Moment, das Müller interessiert. In den zwei von Reto Müller bespielten Sälen finden sich mehrere Arbeiten aus seiner ‹Potentiellen Normaliensammlung›, welche er teils spezifisch für diese Räume entwickelt, teils aber auch schon in anderen Kontexten ausgestellt hat. Sie geben zusammen einen guten Überblick über die subtile Formensprache und den analytischen Ansatz des Künstlers. Da liegt beispielsweise der ‹Appenzellergranit›, 2021, ein grosses Nagelfluh-Gestein, aus dessen Kern Müller einen Block herausgeschnitten Reto Müller (*1984, Stein am Rhein) lebt in Zürich, Uesslingen-Buch (TG) und Stein am Rhein 2002 Gartenbauschule Oeschberg, Koppingen 2010 Diplom LEM – Szenografiedepartement, École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq, Paris 2013 BA Fine Arts, Ecav / École cantonale d’Art du Valais, Siders Einzelausstellungen (Auswahl) 2020 ‹Shanghaien›, mit Francisco Sierra, Auto, St. Gallen 2018 ‹La règle du pigeon›, Cinéma Rex, Bern 2017 ‹Potentielle Normaliensammlung›, Kunsthaus Langenthal 2016 ‹Ein essentieller Knoten›, mit Vincent Hofmann, Kunstraum Kreuzlingen und Stadttheater Winterthur 2012 ‹Manga_Village Cinéma_›, mit Vincent Hofmann, Manga, Burkina Faso Gruppenausstellungen (Auswahl) 2023 ‹Frida›, Lichtensteig 2022 ‹La Casa Ispirata›, Istituto Svizzero, Rom 2021 ‹Heimspiel›, Kunsthalle St. Gallen; ‹Body extravagant›, Pilz Welle Lust, Basel 2017 ‹Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus›, Hartware MedienKunstVerein, Dortmund 68 Kunstbulletin 7-8/2023

gegossenen Basalt-Elementen gefügt und erstreckt sich mit über fünf Metern Höhe<br />

vom Boden bis zur Decke. Es entsteht der Eindruck, dass die Säule ohne Anfang und<br />

Ende über den Raum hinauswachsen könnte.<br />

Das Objekt ist Teil von Müllers fortlaufender Serie ‹Potentielle Normaliensammlung›<br />

und wie viele seiner Werke aus leicht adaptierten Standardformen gefertigt.<br />

So wurde der Basalt in einer Industriegiesserei in Polen zu Rohrelementen gegossen,<br />

woraus der Künstler dann die Säule errichtet hat. Ein entscheidendes Moment<br />

dieser Arbeit liegt im Transformationsprozess, der ins Material eingeschrieben wird.<br />

«Das Millionen Jahre alte Gestein wird innerhalb von kürzester Zeit in eine neue Form<br />

gegossen und kann nun potenziell über Jahrtausende in dieser Form und in diesem<br />

Aggregatzustand verharren», erklärt Müller. Er sieht im Vorgang von Erstarrung, Abformung<br />

und Umformung auch Parallelen zu kulturellen Aneignungsprozessen historischer<br />

Monumente wie der Trajansäule in Rom. Das Marmordenkmal ist aussen<br />

mit einem spiralförmig aufsteigenden Fries geschmückt, der Szenen aus dem Krieg<br />

Kaiser Trajans gegen die Daker idealisiert, und wurde zum Vorbild für zahlreiche Ehren-<br />

und Siegessäulen von der Antike bis in die Gegenwart. Mit der begehbaren Wendeltreppe<br />

im Inneren der Trajansäule ist hier zudem ein Symbol für Transzendenz an<br />

die steinerne Materialität geknüpft – ein Moment, das Müller interessiert.<br />

In den zwei von Reto Müller bespielten Sälen finden sich mehrere Arbeiten aus<br />

seiner ‹Potentiellen Normaliensammlung›, welche er teils spezifisch für diese Räume<br />

entwickelt, teils aber auch schon in anderen Kontexten ausgestellt hat. Sie geben<br />

zusammen einen guten Überblick über die subtile Formensprache und den analytischen<br />

Ansatz des Künstlers. Da liegt beispielsweise der ‹Appenzellergranit›, 2021, ein<br />

grosses Nagelfluh-Gestein, aus dessen Kern Müller einen Block herausgeschnitten<br />

Reto Müller (*1984, Stein am Rhein) lebt in Zürich, Uesslingen-Buch (TG) und Stein am Rhein<br />

2002 Gartenbauschule Oeschberg, Koppingen<br />

2010 Diplom LEM – Szenografiedepartement, École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq, Paris<br />

2013 BA Fine Arts, Ecav / École cantonale d’Art du Valais, Siders<br />

Einzelausstellungen (Auswahl)<br />

2020 ‹Shanghaien›, mit Francisco Sierra, Auto, St. Gallen<br />

2018 ‹La règle du pigeon›, Cinéma Rex, Bern<br />

2017 ‹Potentielle Normaliensammlung›, Kunsthaus Langenthal<br />

2016 ‹Ein essentieller Knoten›, mit Vincent Hofmann, Kunstraum Kreuzlingen und<br />

Stadttheater Winterthur<br />

2012 ‹Manga_Village Cinéma_›, mit Vincent Hofmann, Manga, Burkina Faso<br />

Gruppenausstellungen (Auswahl)<br />

<strong>2023</strong> ‹Frida›, Lichtensteig<br />

2022 ‹La Casa Ispirata›, Istituto Svizzero, Rom<br />

2021 ‹Heimspiel›, Kunsthalle St. Gallen; ‹Body extravagant›, Pilz Welle Lust, Basel<br />

2017 ‹Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus›, Hartware MedienKunstVerein, Dortmund<br />

68 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>

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