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Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

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Lygia Pape in Brasilien, Charlotte Posenenske in Westdeutschland<br />

und Mary Vieira zwischen Brasilien, Italien und der Schweiz:<br />

Wo sich ab den frühen 1960ern die Möglichkeit bot, Neukonzeptionen<br />

von Kunst und Gestaltung unter realen Bedingungen und<br />

im Alltag zu testen, waren sie vorne dabei. Stefanie Manthey<br />

In den 1960er-Jahren internationalisierte und kommerzialisierte sich das Kunstschaffen<br />

in der Weltordnung der Nachkriegszeit. Parallel zum Aufkommen neuer Materialien<br />

und einer gesellschaftlichen Hyper-Aufgeschlossenheit gegenüber technologischer<br />

Innovation wurden experimentelle Ansätze in Kunst und Design erprobt. Sie<br />

wurden begleitet von institutionskritischen Debatten, dem Entstehen konzeptioneller<br />

und prozessbasierter Kunstformen und transdisziplinärer Zusammenarbeit. Reform-Hochschulen<br />

etablierten sich als Akteure in einem politischen Feld, eingebettet<br />

in ein allgemeines Klima notwendiger Veränderungen. Veraltete Normen hatten<br />

sich als untauglich erwiesen, drängende Probleme der Gegenwart auf eine Weise zu<br />

lösen, die technische Innovationen für die Eigenkontrolle, Anpassungen und Korrekturen<br />

mit einbindet. Vieles von der damaligen Reform-Euphorie wurde allerdings<br />

ausgebremst, ohne dass die Probleme gelöst worden wären. Betrachtet aus der Gegenwart,<br />

in der Grenzen zwischen Mensch und Technologie porös und programmierte<br />

Abläufe allgegenwärtig sind, gewinnen die Ansätze erneut an Aktualität.<br />

1968 übernahm die Brasilianerin Mary Vieira die erste Professur für Raumgestaltung<br />

an der damaligen Schule für Gestaltung in Basel. Vier Jahre zuvor war sie<br />

eine der Künstler:innen, die für die Expo ’64 in Lausanne Arbeiten im Aussenraum<br />

realisierten. Die Schwarz-Weiss-Fotografie, die im Nachlass von Mary Vieira in Mailand<br />

aufbewahrt wird, dokumentiert eine Situation während des Aufbaus eines ihrer<br />

‹polyvolumes› unter freiem Himmel. Bei der untersten Aluminiumplatte hat Vieira mit<br />

blos sen Händen angefangen, die rund drei Meter hohe Masse aus aufeinandergeschichteten,<br />

quadratischen Aluminiumplatten zu einer von vielen möglichen skulpturalen<br />

Erscheinungen zu formen. Die temporäre Transformation geometrischer Gebilde<br />

zu sinnlichen Volumen war ein wichtiger Aspekt ihrer künstlerischen Praxis.<br />

Vieira begab sich dabei stellvertretend in die Rolle, die von jeder Person immer wieder<br />

gemäss des Prinzips «finir à commencer» eingenommen werden kann und soll.<br />

Seit 1968 steht im Foyer der Universitätsbibliothek Basel ein vergleichbares Werk<br />

Vieiras mit dem Titel ‹polyvolume: itinéraire hexagonal, métatriangulaire, à communication<br />

tactile›. Es fügt sich am Knotenpunkt zwischen Ausleihe, Digitalisierungsstationen<br />

und Lesesälen in das Raumangebot. Die veränderbare Skulptur lädt alle dazu ein,<br />

mit ihr zu interagieren, Erfahrungen «taktiler Kommunikation» à la Vieira zu machen<br />

und sich dabei des fortwährenden Ineinandergreifens von individuellen Handlungen<br />

und allgemeinen Mustern bewusst zu werden.<br />

Stefanie Manthey, Kunstvermittlerin, Autorin und Dozentin, lebt in Basel. stefanie.manthey@gmail.com<br />

→ Ansichten: Ein Bild, ein Text – Autor:innen kommentieren eine visuelle Vorlage ihrer Wahl.<br />

FOKUS // ANSICHTEN<br />

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