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Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

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nach Sir Henry McMahon, früherer Aussenminister von Britisch-Indien, wurde die<br />

Grenze 1914 gezogen, um das dicht besiedelte Gebiet des indischen Subkontinents<br />

in unabhängige Territorien aufzuteilen. Diese konstruierte Grenzlinie entspricht ungefähr<br />

dem heutigen Grenzverlauf zwischen den von Indien und China kontrollierten<br />

Regionen. Während sie aus indischer Sicht allerdings als permanent angesehen wird,<br />

ist sie für China nur vorläufig. Konflikte sind vorprogrammiert.<br />

Die Verwendung von Elektrodraht ist ein weiteres Charakteristikum von Kallats<br />

Œuvre. Während das Material, als Kommunikationsinfrastruktur eingesetzt, Menschen<br />

miteinander verbinden kann, beinhaltet es in Form von elektrischen Stacheldrahtzäunen<br />

zur Grenzkontrolle gleichermassen ein gewaltsames Potenzial. Diese<br />

Ambiguität von Verbindung und Trennung, Gewalt und Hoffnung kommt in den Werken<br />

deutlich zum Ausdruck. Subtil verweisen sie darauf, dass gesellschaftspolitische<br />

Konstellationen oft komplex sind und viele Nuancen aufweisen.<br />

Das Netzwerk der Ungleichheit<br />

Eine wandfüllende, aus farbigem elektrischem Stacheldraht gewobene Landkarte<br />

lässt unzählige Verknüpfungen zwischen einzelnen Ländern erkennen. ‹Woven Chronicle›<br />

hat Kallat seit 2015 in unterschiedlichen Versionen realisiert. In Thun zeichnet<br />

sie länderspezifische, ökologische Fussabdrücke nach und visualisiert damit das<br />

Beziehungsnetzwerk und die Diskrepanz zwischen Globalem Norden und Globalem<br />

Süden. Auf einer auditiven Ebene erklingt dazu ein Gemenge an Geräuschen, in dem<br />

sich das Surren von Hochspannungsleitungen mit Tönen aus der Tiefsee vermischt,<br />

überlagert von Sirenen, Schiffshörnern und Zugvogelstimmen.<br />

Unterschiede zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre und die Bewegungsfreiheiten<br />

oder -zwänge, die damit einhergehen, spricht Kallat in verschiedenen<br />

Werken an. Die mehrteilige Fotoarbeit ‹Pattern Recognition›, 2022, nimmt Bezug<br />

auf ein Mobilitätsgefälle während der COVID-19-Reisebeschränkungen: Ein japanischer<br />

Reisepass gewährte 2022 Zugang zu 193 Ländern, Menschen aus Afghanistan<br />

konnten nur in 26 Länder einreisen. In ‹Colour Curtain (between shores and the seas)›,<br />

2009, sind bunte Gummistempel – Symbol von Autorität und Bürokratie – zu einer<br />

Kordel gefügt, ähnlich wie man sie von Absperrungen auf Flughäfen kennt. Die Prägungen<br />

der Stempel zeigen Namen von Personen, deren Visumsanträge abgelehnt<br />

wurden. Hinter der fröhlichen Anmutung der Installation versteckt sich ein starkes<br />

Sinnbild für systemische Ungleichheiten.<br />

Von Landkarten, Symbolen, Vögeln und Utopien<br />

Mit einer positiven Note endet die Werkgruppe ‹Siamese Trees›, 2018: Zwei Baumkronen,<br />

geflochten aus Elektrodraht, münden in einen einzigen Stamm. Kopfüber<br />

gestellt, erinnern sie an menschliche Lungen und unterstreichen das lebensnotwendige<br />

Zusammenspiel ihrer Hälften. Typische Baumarten von Ländern, die eine konfliktreiche<br />

Grenze teilen, vereinigen sich hier symbolisch und ignorieren mit ihrem<br />

drahtigen Wurzelnetzwerk die ihnen auferlegten geografischen Grenzen. Diese Ei-<br />

56 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>

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