Kunstbulletin Juli/August 2023
Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.
sind als fliessendes Wasser FOKUS // REENA SAINI KALLAT 51
Flüsse mit ihren geografischen und geopolitischen Komponenten fliessen wie ein roter Faden durch das Œuvre von Reena Saini Kallat. Jetzt zeigt die indische Künstlerin im Kunstmuseum Thun ihre erste Soloschau in der Schweiz. Sie erzählt von menschgemachten Grenzen, politischen Konflikten, systemischen Ungleichheiten und der Macht der Erinnerung. Seraina Peer ‹Deep Rivers Run Quiet› – so betitelt Reena Saini Kallat nicht nur ihre umfangreiche Einzelausstellung im Kunstmuseum Thun, sondern auch eine Werkserie von 2020. Diese begrüsst die Besuchenden am Anfang des Rundgangs und steht programmatisch für viele Fragen, welche die Künstlerin in ihrer Kunst beschäftigen: Es geht um das Konstrukt von politischen Grenzen, um die Form, die sie in der Landschaft einnehmen, und um ihre gesellschaftlichen Folgen. Ein besonderes Augenmerk legt Kallat auf die konfliktreichen Beziehungen zwischen politisch geteilten, aber historisch verbundenen Ländern wie Indien und Pakistan, Israel und Palästina oder Nordund Südkorea. Ihr Interesse für diese Themen gründet in ihrer Familiengeschichte, die von der Teilung Indiens und Pakistans 1947 geprägt wurde. In Delhi aufgewachsen, war Kallat bereits in Mumbai wohnhaft, als das vormals kolonial geprägte englisch-portugiesische Bombay 1996 offiziell seinen heutigen Namen erhielt. Das war für sie der Auslöser, um sich mit der Geschichte ihres Landes auseinanderzusetzen. Im gleichen Jahr schloss sie an der Kunsthochschule der indischen Metropole ihren Bachelor in Malerei ab und befasste sich sodann mit den kolonialen Wunden ihres Landes und mit Migrationsgeschichten. Heute zählt Reena Saini Kallat zu den wichtigsten indischen Gegenwartkünstlerinnen. Die Soloschau in Thun ist ihre bisher grösste in Europa. Formen von Verbindung und Trennung Mit der These, dass Nationen und Landesgrenzen ein Zeugnis von Machtkonstruktionen sind, fordern Kallats Werke dazu auf, Zustände zu hinterfragen und Verbindendes zu sehen: «Anstatt Flüsse ins Zentrum von Länderkonflikten zu setzen», so die Künstlerin, «sollte unsere Abhängigkeit von ihnen uns ermöglichen, Wege für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu finden, bei der Wasser als ein gemeinsames Erbe gesehen wird.» Diese Kraft der Verbindung kommt in ‹Vortex›, 2022, zum Ausdruck: Aus Elektrodraht formte Kallat die Grenzlinien von Ländern nach, die sich um die Aufteilung ihrer gemeinsamen Gewässer streiten. Diese krakeligen Strukturen fügt sie vor einer weissen Wand zur Form eines Fingerabdrucks zusammen, um daran zu erinnern, dass wir alle eine gemeinsame Identität teilen. Immer wieder nutzt Kallat die Linie in unterschiedlicher Ausprägung, um komplexe Sachverhalte künstlerisch zu verhandeln. So auch in ‹Leaking Lines›, 2019: Zeichnungen von Topografien und handschriftliche Notizen machen die gewaltsamen Konflikte um Grenzverläufe wie beispielsweise die McMahon-Linie deutlich. Benannt 52 Kunstbulletin 7-8/2023
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Flüsse mit ihren geografischen und geopolitischen Komponenten<br />
fliessen wie ein roter Faden durch das Œuvre von Reena Saini<br />
Kallat. Jetzt zeigt die indische Künstlerin im Kunstmuseum Thun<br />
ihre erste Soloschau in der Schweiz. Sie erzählt von menschgemachten<br />
Grenzen, politischen Konflikten, systemischen Ungleichheiten<br />
und der Macht der Erinnerung. Seraina Peer<br />
‹Deep Rivers Run Quiet› – so betitelt Reena Saini Kallat nicht nur ihre umfangreiche<br />
Einzelausstellung im Kunstmuseum Thun, sondern auch eine Werkserie von 2020.<br />
Diese begrüsst die Besuchenden am Anfang des Rundgangs und steht programmatisch<br />
für viele Fragen, welche die Künstlerin in ihrer Kunst beschäftigen: Es geht<br />
um das Konstrukt von politischen Grenzen, um die Form, die sie in der Landschaft<br />
einnehmen, und um ihre gesellschaftlichen Folgen. Ein besonderes Augenmerk legt<br />
Kallat auf die konfliktreichen Beziehungen zwischen politisch geteilten, aber historisch<br />
verbundenen Ländern wie Indien und Pakistan, Israel und Palästina oder Nordund<br />
Südkorea.<br />
Ihr Interesse für diese Themen gründet in ihrer Familiengeschichte, die von der<br />
Teilung Indiens und Pakistans 1947 geprägt wurde. In Delhi aufgewachsen, war Kallat<br />
bereits in Mumbai wohnhaft, als das vormals kolonial geprägte englisch-portugiesische<br />
Bombay 1996 offiziell seinen heutigen Namen erhielt. Das war für sie der Auslöser,<br />
um sich mit der Geschichte ihres Landes auseinanderzusetzen. Im gleichen Jahr<br />
schloss sie an der Kunsthochschule der indischen Metropole ihren Bachelor in Malerei<br />
ab und befasste sich sodann mit den kolonialen Wunden ihres Landes und mit<br />
Migrationsgeschichten. Heute zählt Reena Saini Kallat zu den wichtigsten indischen<br />
Gegenwartkünstlerinnen. Die Soloschau in Thun ist ihre bisher grösste in Europa.<br />
Formen von Verbindung und Trennung<br />
Mit der These, dass Nationen und Landesgrenzen ein Zeugnis von Machtkonstruktionen<br />
sind, fordern Kallats Werke dazu auf, Zustände zu hinterfragen und Verbindendes<br />
zu sehen: «Anstatt Flüsse ins Zentrum von Länderkonflikten zu setzen», so die<br />
Künstlerin, «sollte unsere Abhängigkeit von ihnen uns ermöglichen, Wege für eine<br />
grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu finden, bei der Wasser als ein gemeinsames<br />
Erbe gesehen wird.» Diese Kraft der Verbindung kommt in ‹Vortex›, 2022, zum<br />
Ausdruck: Aus Elektrodraht formte Kallat die Grenzlinien von Ländern nach, die sich<br />
um die Aufteilung ihrer gemeinsamen Gewässer streiten. Diese krakeligen Strukturen<br />
fügt sie vor einer weissen Wand zur Form eines Fingerabdrucks zusammen, um<br />
daran zu erinnern, dass wir alle eine gemeinsame Identität teilen.<br />
Immer wieder nutzt Kallat die Linie in unterschiedlicher Ausprägung, um komplexe<br />
Sachverhalte künstlerisch zu verhandeln. So auch in ‹Leaking Lines›, 2019: Zeichnungen<br />
von Topografien und handschriftliche Notizen machen die gewaltsamen Konflikte<br />
um Grenzverläufe wie beispielsweise die McMahon-Linie deutlich. Benannt<br />
52 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>