Kunstbulletin Juli/August 2023
Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.
Petrit Halilaj Genf — Das Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum zeigt im Rahmen des «Year of Mental Health» eine Installation des bedeutenden kosovarischen Künstlers Petrit Halilaj (*1986). ‹very volcanic over this green feather› wurde erstmals 2021 in der Tate St. Ives in England gezeigt. Nun entfaltet sich ihre Doppelgesichtigkeit in Genf. Locker verteilt im Wechselausstellungssaal, baumeln an Fäden aufgehängte Filzstoffe, bedruckt mit Zeichnungen. Die Motive hat der Künstler nach der Flucht aus der uralten Stadt Runik, die während des Jugoslawienkriegs zerstört wurde, im Alter von 13 Jahren in einem Therapieprogramm in einem Lager in Albanien hervorgebracht. Begibt man sich in die Installation, fällt der Blick zwischen rätselhaften Farbflächen auf die schönsten und glücklichsten Dinge, an die Halilaj damals denken konnte: eine üppige Vegetation und Vögel, die in wunderbarem Federkleid paradieren oder auf und davon fliegen. Erst die Rückseiten der mysteriösen Farbgebilde enthüllt die schrecklichen Erinnerungen, die den Künstler in dieser Zeit plagten: eine Ruine, Soldaten mit Gewehren, eine Explosion. Dieses fürsorgliche Aufwiegen des Traumas war schon in der Behandlung durch den italienischen Psychologen Giacomo Poli angelegt, der die Kinder im Lager das Licht in ihrem «Universum» stärken liess. Die Arbeit von Halilaj war immer schon biografisch angelegt. Neben Gedächtnis und Versöhnung taucht darin etwa seine Homosexualität auf, die sich für ihn retrospektiv neben dem Traum, andere Länder zu entdecken, ebenfalls in den Vögeln in den Zeichnungen von 1999 ankündigt. Der Künstler fragte allerdings erst während des Lockdowns 2020 bei seinem ehemaligen Therapeuten nach jenen Blättern, 21 Jahre später. Das entspricht auch empirisch einer Dauer, in der Betroffene ein Trauma oft erst einordnen und ablegen und sich wieder als ihres Glückes Schmied erfahren können. Die Bedeutung der Installation ‹very volcanic over this green feather› liegt in der dem Talent von Halilaj geschuldeten Poesie, mit der diese definitive Heilung der Seele anschaulich wird. Der einzige beidseitig bedruckte Filzstoff in der Ausstellung macht dabei wie ein Stich ins Herz bewusst, wie diese Heilung zuweilen auf der Kippe stand. Zu sehen ist das Selbstporträt, das Halilaj damals als Geschenk für Kofi Annan auf einen aus dem Zeltboden gerissenen Karton zeichnete. Der Grossvater aber fuhr ihn an: «Glaubst du wirklich, dass dein Zeichnen den Krieg stoppen wird?» Auf dem Bild, das Petrit Halilaj, niedergeschmettert, dem UNO- Generalsekretär schliesslich nur zeigte, ist ein weinender Junge zu sehen. KHO Petrit Halilaj · very volcanic over this green feather, 2022, Ausstellungsansicht Tate St. Ives. Foto: Matt Greenwood Petrit Halilaj · very volcanic over this green feather, 2023, Ausstellungsansicht Internationales Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum, Genf. Foto: Zoé Aubry → Internationales Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum, bis 17.9. ↗ redcrossmuseum.ch HINWEISE // CASTASEGNA / GENF 81
Margareta Daepp Genf — Die höchste Inspiration von Margareta Daepp (*1959, Bern) lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Japan. Schon während ihres Studiums an der École d’arts appliqués in Genf war sie fasziniert von der Arbeit mit Ton ihrer Lehrerin, der japanischen Keramikerin Setsuko Nagasawa. Später, zwischen 2005 und 2017, konnte sie viermal in das Land reisen, auch als Artist-in-Residence in Shigaraki und Seto. Dort erlernte sie andere Keramiktechniken, etwa die Anagama-Brenntechnik, und arbeitete mit Spezialist:innen für Lackmalerei zusammen. Die Radikalität der Form, einfache Muster, die Poesie des Alltags – all das, was die Keramikkünstlerin in Japan gesehen hat, spiegelt sich in ihren Werken wider. Im Musée Ariana zieht der erste Ausstellungsraum eine Art Bilanz über dieses japanische Kapitel. So kombiniert das Werk ‹Quadrat, Kreis, Sechseck›, 2016, eine leuchtend orangerote Scheibe, die spontan an die japanische Flagge erinnert, mit einem blauweiss karierten Quadrat. Andernorts erinnert eine rosafarbene kleine Schale in Form einer abstrahierten Blüte an Sakura-Blumen. Im zweiten Raum finden sich andere Assoziationen – so erinnert eine Serien von flachen, farbigen Porzellanscheiben an Wellblech. In ihrer ganz eigenen Sprache schafft Daepp singuläre, schlichte Werke – oder wie es der Ausstellungstitel formuliert: ‹Simply Radical›. IDL Hans Erni Luzern — 19 Jahre jung war Hans Erni (1909–2015), als er erstmals nach Paris reiste. Für den angehenden Künstler, der gerade die Kunstgewerbeschule Luzern mit Bestnoten abgeschlossen hatte, muss es eine nachhaltige Erfahrung gewesen sein. Nicht nur lebte er ab 1930 während vier Jahren abwechselnd in Luzern und Paris, er saugte die dortige avantgardistische Kunst regelrecht auf. Davon zeugt die Ausstellung ‹Der junge Hans Erni – Die Sammlung Maria und Walter Strebi-Erni› im Hans Erni Museum. Besonders der Kubismus scheint es dem jungen Künstler angetan zu haben: So malte er in dieser Zeit in kantige, geometrische Formen zerfallende Stillleben und Figuren, die unverkennbar an Pablo Picasso oder Georges Braques erinnern. Aber auch in surrealistischer und neusachlicher Manier versuchte er sich. In Paris, so scheint es, probierte sich Erni aus, auf der Suche nach dem eigenen Stil. Umso spannender, dass bereits in dieser frühen Phase Sujets zu finden sind, die in späteren Werken wieder auftauchen: Athleten, die Zweisamkeit von Mutter und Kind, Szenen aus der griechischen Mythologie. Und auch die gleichermassen abstrakten wie figürlichen Liniengeflechte, für die Erni später bekannt wurde und die in der Sammlungsschau des Hans Erni Museums zu sehen sind, erscheinen vor seinen Pariser Versuchen plötzlich in neuem Licht. TSO Margareta Daepp · Quadrat, Kreis, Hexagon, 2016, aus der Serie ‹Pictogramme poétique›, Porzellan, Karosserielack, Silber, Masse gesamt ca. 55 x 70 x 3 cm. Foto: Dominique Uldry → Musée Ariana, bis 24.9. ↗ musee-ariana.ch Hans Erni · Stillleben mit weissem Tuch, 1932, Öl auf Leinwand, 60 x 73 cm. Foto: A. Stadler → Hans Erni Museum, bis 30.7. ↗ verkehrshaus.ch/hansernimuseum 82 Kunstbulletin 7-8/2023
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Margareta Daepp<br />
Genf — Die höchste Inspiration von Margareta<br />
Daepp (*1959, Bern) lässt sich in einem Wort<br />
zusammenfassen: Japan. Schon während ihres<br />
Studiums an der École d’arts appliqués in Genf<br />
war sie fasziniert von der Arbeit mit Ton ihrer<br />
Lehrerin, der japanischen Keramikerin Setsuko<br />
Nagasawa. Später, zwischen 2005 und 2017,<br />
konnte sie viermal in das Land reisen, auch als<br />
Artist-in-Residence in Shigaraki und Seto. Dort<br />
erlernte sie andere Keramiktechniken, etwa<br />
die Anagama-Brenntechnik, und arbeitete mit<br />
Spezialist:innen für Lackmalerei zusammen.<br />
Die Radikalität der Form, einfache Muster, die<br />
Poesie des Alltags – all das, was die Keramikkünstlerin<br />
in Japan gesehen hat, spiegelt sich<br />
in ihren Werken wider. Im Musée Ariana zieht<br />
der erste Ausstellungsraum eine Art Bilanz<br />
über dieses japanische Kapitel. So kombiniert<br />
das Werk ‹Quadrat, Kreis, Sechseck›, 2016, eine<br />
leuchtend orangerote Scheibe, die spontan an<br />
die japanische Flagge erinnert, mit einem blauweiss<br />
karierten Quadrat. Andernorts erinnert<br />
eine rosafarbene kleine Schale in Form einer<br />
abstrahierten Blüte an Sakura-Blumen. Im<br />
zweiten Raum finden sich andere Assoziationen<br />
– so erinnert eine Serien von flachen, farbigen<br />
Porzellanscheiben an Wellblech. In ihrer<br />
ganz eigenen Sprache schafft Daepp singuläre,<br />
schlichte Werke – oder wie es der Ausstellungstitel<br />
formuliert: ‹Simply Radical›. IDL<br />
Hans Erni<br />
Luzern — 19 Jahre jung war Hans Erni<br />
(1909–2015), als er erstmals nach Paris reiste.<br />
Für den angehenden Künstler, der gerade die<br />
Kunstgewerbeschule Luzern mit Bestnoten<br />
abgeschlossen hatte, muss es eine nachhaltige<br />
Erfahrung gewesen sein. Nicht nur lebte er ab<br />
1930 während vier Jahren abwechselnd in Luzern<br />
und Paris, er saugte die dortige avantgardistische<br />
Kunst regelrecht auf. Davon zeugt die<br />
Ausstellung ‹Der junge Hans Erni – Die Sammlung<br />
Maria und Walter Strebi-Erni› im Hans<br />
Erni Museum. Besonders der Kubismus scheint<br />
es dem jungen Künstler angetan zu haben: So<br />
malte er in dieser Zeit in kantige, geometrische<br />
Formen zerfallende Stillleben und Figuren, die<br />
unverkennbar an Pablo Picasso oder Georges<br />
Braques erinnern. Aber auch in surrealistischer<br />
und neusachlicher Manier versuchte er sich. In<br />
Paris, so scheint es, probierte sich Erni aus, auf<br />
der Suche nach dem eigenen Stil. Umso spannender,<br />
dass bereits in dieser frühen Phase<br />
Sujets zu finden sind, die in späteren Werken<br />
wieder auftauchen: Athleten, die Zweisamkeit<br />
von Mutter und Kind, Szenen aus der griechischen<br />
Mythologie. Und auch die gleichermassen<br />
abstrakten wie figürlichen Liniengeflechte,<br />
für die Erni später bekannt wurde und die in<br />
der Sammlungsschau des Hans Erni Museums<br />
zu sehen sind, erscheinen vor seinen Pariser<br />
Versuchen plötzlich in neuem Licht. TSO<br />
Margareta Daepp · Quadrat, Kreis, Hexagon,<br />
2016, aus der Serie ‹Pictogramme poétique›,<br />
Porzellan, Karosserielack, Silber, Masse gesamt<br />
ca. 55 x 70 x 3 cm. Foto: Dominique Uldry<br />
→ Musée Ariana, bis 24.9. ↗ musee-ariana.ch<br />
Hans Erni · Stillleben mit weissem Tuch, 1932,<br />
Öl auf Leinwand, 60 x 73 cm. Foto: A. Stadler<br />
→ Hans Erni Museum, bis 30.7.<br />
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