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Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

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BESPRECHUNGEN<br />

Tiona Nekkia McClodden — Das Privileg des Atmens<br />

Der Ausstellungsraum ist schon vieles gewesen, aber so luftleer<br />

war er selten. In ihrer ersten institutionellen Soloschau in<br />

Europa nimmt die US-amerikanische Künstlerin Tiona Nekkia<br />

McClodden der Kunsthalle Basel die Luft – und gibt ihr dafür<br />

eine Sprache, um über das Privileg des Atmens zu sprechen.<br />

Basel — Der kurze Satz braucht einen langen Atem: «Don’t forget to forget to breathe»<br />

– steht auf einem schwarzen Lederriemen, der senkrecht an der Wand hängt. Es<br />

ist ein viel genanntes Klischee, dass wir nicht ans Atmen denken müssen. Es ist aber<br />

auch ein Privileg, das Atmen vergessen zu können. «I can’t breathe» der Black-Lives-<br />

Matter-Bewegung hat auf den Punkt gebracht, dass Diskriminierungen wie Rassismus<br />

Betroffenen die Luft nehmen: buchstäblich oder indirekt – etwa durch Wohnpolitik<br />

und Luftverschmutzung – und in metaphorischem Sinn sowieso.<br />

«Don’t forget to forget to breathe» könnte in dieser Logik eine ironische Aufforderung<br />

an Menschen sein, denen die Luft nicht wegen unabänderlicher Tatsachen<br />

ihrer individuellen Verfasstheit – etwa wegen ihrer Hautfarbe – wegbleibt, doch bitte<br />

in dieser privilegierten Atemfreiheit zu verbleiben. Oder als Durchhalteparole für<br />

Betroffene: «Denk dran, im Prinzip wärst du als Mensch berechtigt, das Atmen zu<br />

vergessen.» In der Ausstellung von Tiona Nekkia McClodden (*1981) in der Kunsthalle<br />

Basel wird der Satz, der zusammen mit anderen Sätzen in einer gewohnt kargen Präsentation<br />

im Oberlichtsaal hängt, auch als persönliches Mantra aufgelöst: Im letzten<br />

Raum der Schau mit dem unglaublichen Titel ‹The Poetics of Beauty Will Inevitably<br />

Resort to the Most Base Pleadings And Other Wiles in Order to Secure Its Release›<br />

ist in einem Video die schlafende Künstlerin zu sehen. An ihrem Kopf befestigt ist<br />

eine Atemmaske, die zum Zuge kommt, wenn ihr die Luft wegbleibt: McClodden leidet<br />

unter Schlafapnoe, einer Erkrankung, die die Atmung während des Schlafs immer<br />

wieder kurz stoppen lässt. Ihr Körper vergisst mehrmals pro Stunde, zu atmen.<br />

Auch wenn ich als weisser Mann es vielleicht bequem fände, um in simpler Solidarität<br />

schwelgen zu können: Das ist keine Schau zu «I can’t breathe», sondern eine<br />

zu «Don’t forget to forget to breathe». Es ist eine Verkomplizierung der Verhältnisse,<br />

eine «Komplexisierung» der eigentlich doch vernachlässig- und vergessbaren Atmung<br />

mit den Mitteln der Kunst – bis hin zu Themen wie der industriellen Tierhaltung,<br />

die von der Künstlerin mittels würgender Gerätschaften eingebracht wird. Und diese<br />

Verkomplizierung ist produktiv und nachhaltig. «Don’t forget to forget to breathe»<br />

heisst auch: Du wirst es nie mehr wirklich vergessen können. Daniel Morgenthaler<br />

→ ‹Tiona Nekkia McClodden – The Poetics of Beauty Will Inevitably Resort to the Most Base Pleadings<br />

And Other Wiles in Order to Secure Its Release›, Kunsthalle Basel, bis 13.8. ↗ kunsthallebasel.ch<br />

92 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>

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