Kunstbulletin Juli/August 2023
Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.
mag und zugleich konterkariert. Komplizenschaft mit wem oder was ist aufgerufen? Komplizenschaft mit dem faszinierenden, fetischartigen Objekt oder der Künstlerin und ihrem Spiel mit dem Uneindeutigen? Eine Antwort gibt die absolut sehenswerte Schau bis Ende August. MG Sylvie Fleury · White Gold, 2010, Palladium auf Bronze, 43 x 54 x 40 cm Sylvie Fleury · Shoplifters from Venus, 2023, Courtesy Sprüth Magers / Karma International, Zürich / Galerie Mehdi Chouakri, Berlin, Ausstellungsansicht Kunst Museum Winterthur → Kunst Museum Winterthur | Beim Stadt haus, bis 20.8. ↗ kmw.ch Peintres Yverdon-les-Bains — «Kamikaze, nur malen zu wollen», habe man ihr beim Abschluss an der ECAL gesagt, erzählt Jessica Russ vor ihrem Farbfeldgemälde, das unterschiedlichste Naturbeobachtungen nach formalen Kriterien verschränkt und in dem sich Figuration und Abstraktion auf faszinierende Art und Weise die Waage halten. Russ ist eine der sechs Kunstschaffenden in der Ausstellung ‹Peintres – Une exploration de la peinture contemporaine en Suisse romande›. Direktor Rolando Bassetti lotet darin den Stand dieses Mediums aus, welches in der Neuzeit zentral war, später aber oft in Verdacht des unzeitgemässen Wiedergängers geraten ist. Bassetti liess die sechs «peintres» je zwei weitere vorschlagen und jene wiederum zwei. Wohl hätte das Spiel noch ein paar Mal wiederholt werden müssen, um eine objektive Übersicht zu erhalten; dass auch grosse Namen fehlen, mag die vom Schneeballsystem nicht erfassten Künstler:innen trösten. Aber es ging Bassetti nicht um eine repräsentative Überblicksschau, sondern vielmehr um die erstaunlich heterogenen Beziehungen zwischen den aufgrund Doppelnennungen nur 41 Maler:innen. Diese macht er nicht zuletzt auch szenografisch deutlich. Das kuratorische Ruder wieder übernehmend, verwandelte er die Hallen und Kabinette des CACY in eine fliessende Raumfolge, welche die Kommunikation untereinander erlaubt. Das oft mit der Romandie identifizierte Neo-Geo taucht in verschiedenen Gruppen mit ausgesprochener Figuration auf. So hat etwa Sébastien Mettraux, der Details von Maschinen und Pflanzen hyperrealistisch in Szene setzt, den Minimalisten Pierre Schwerzmann sowie Till Rabus gewählt, der klassische Stillleben mit Massenkonsumgütern verfremdet. Sie sind Vertreter einer eher properen Malerei. Umso mehr fallen in der kurzweiligen Ausstellung die Positionen auf, die gestisch sind, wie Peter Roesch (Wahl Caroline Bachmann), der mit horizontalen «Pinselstreicheleien» in Blutorange eine reichhaltige Landschaft evoziert, oder Gilles Furtwängler und Anjesa Dellova HINWEISE // STEIN AM RHEIN / WINTERTHUR / YVERDON-LES-BAINS 89
(Wahl Elisabeth Llach), die eine bewusste Bearbeitung der Oberfläche zeigen. Ersterer hat über ein weisses Relief einer Textarbeit zu Afrika einen Rooibos-Aufguss gestrichen, der das Lesen der weissen Schrift ermöglicht, aber auch davon ablenkt. Dellova begegnet dagegen dem Ungeheuerlichen, Unfassbaren von Köpfen und Körpern mit fein abgestuften Abschürfungen monochromer Farbschichten. KHO ‹Peintres›, Ausstellungsansicht CACY, 2023, mit Gemälden von Till Rabus und Pierre Schwerzmann. Foto: Anne-Laure Lechat Cindy Sherman Zürich — Kennen wir eine Künstlerin, die in den vergangenen fünf Jahrzenten derart konsequent in einem Medium, der Fotografie, und weitgehend mit einem Thema, der Selbstinszenierung, unterwegs war, wie die US-Amerikanerin Cindy Sherman (*1954)? Wer meint, die Künstlerin habe sich erschöpft, wird in der Stuttgarter Staatsgalerie und bei Hauser & Wirth in Zürich eines Besseren belehrt. Während Stuttgart unter dem Titel ‹Anti Fashion› farbige Grossformate seit den 1980ern zeigt, gibt es in Zürich zwei brandneue Serien zu sehen. Sie machen uns Staunen, bereiten Freude. Gute-Laune-Bilder mit Tiefgang. In 26 Silbergelatinedrucken in zwei Formaten führt uns die Künstlerin eine groteske Porträtgalerie vor, am Computer generierte Collagen von ihren Augen, Brauen, Backen, der Nase, Stirn und Mund, mal geschminkt, mal in voller Faltenpracht, der Ausdruck mal hold, verträumt, dann entschlossen oder grimassierend. Einige Grimassen erinnern nicht zufällig an die grotesken Büsten Franz Xaver Messerschmidts aus den 1780er-Jahren, die fülligen Draperien und Perücken an die Inszenierungen des Barock. In keiner Epoche vor Instagram und TikTok feilte man mehr am eigenen Image. Bei Sherman wird sie als Bildkritik clever wieder aufgegriffen. MG ‹Peintres›, Ausstellungsansicht CACY, 2023. Foto: Anne-Laure Lechat → Centre d’art contemporain, bis 27.8. ↗ centre-art-yverdon.ch Cindy Sherman · Untitled #652, 2023, Gelatinesilberdruck und chromogener Farbdruck, 101,6 x 75,6 cm, Courtesy Hauser & Wirth → Hauser & Wirth, bis 16.9. ↗ hauserwirth.com → Stuttgarter Staatsgalerie, bis 10.9. ↗ staatsgalerie.de (mit Online-Rundgang) 90 Kunstbulletin 7-8/2023
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mag und zugleich konterkariert. Komplizenschaft<br />
mit wem oder was ist aufgerufen?<br />
Komplizenschaft mit dem faszinierenden,<br />
fetischartigen Objekt oder der Künstlerin und<br />
ihrem Spiel mit dem Uneindeutigen? Eine<br />
Antwort gibt die absolut sehenswerte Schau<br />
bis Ende <strong>August</strong>. MG<br />
Sylvie Fleury · White Gold, 2010, Palladium auf<br />
Bronze, 43 x 54 x 40 cm<br />
Sylvie Fleury · Shoplifters from Venus, <strong>2023</strong>,<br />
Courtesy Sprüth Magers / Karma International,<br />
Zürich / Galerie Mehdi Chouakri, Berlin, Ausstellungsansicht<br />
Kunst Museum Winterthur<br />
→ Kunst Museum Winterthur | Beim Stadt haus,<br />
bis 20.8.<br />
↗ kmw.ch<br />
Peintres<br />
Yverdon-les-Bains — «Kamikaze, nur malen zu<br />
wollen», habe man ihr beim Abschluss an der<br />
ECAL gesagt, erzählt Jessica Russ vor ihrem<br />
Farbfeldgemälde, das unterschiedlichste<br />
Naturbeobachtungen nach formalen Kriterien<br />
verschränkt und in dem sich Figuration und<br />
Abstraktion auf faszinierende Art und Weise die<br />
Waage halten. Russ ist eine der sechs Kunstschaffenden<br />
in der Ausstellung ‹Peintres – Une<br />
exploration de la peinture contemporaine en<br />
Suisse romande›. Direktor Rolando Bassetti<br />
lotet darin den Stand dieses Mediums aus,<br />
welches in der Neuzeit zentral war, später aber<br />
oft in Verdacht des unzeitgemässen Wiedergängers<br />
geraten ist. Bassetti liess die sechs<br />
«peintres» je zwei weitere vorschlagen und<br />
jene wiederum zwei. Wohl hätte das Spiel noch<br />
ein paar Mal wiederholt werden müssen, um<br />
eine objektive Übersicht zu erhalten; dass auch<br />
grosse Namen fehlen, mag die vom Schneeballsystem<br />
nicht erfassten Künstler:innen trösten.<br />
Aber es ging Bassetti nicht um eine repräsentative<br />
Überblicksschau, sondern vielmehr<br />
um die erstaunlich heterogenen Beziehungen<br />
zwischen den aufgrund Doppelnennungen nur<br />
41 Maler:innen. Diese macht er nicht zuletzt<br />
auch szenografisch deutlich. Das kuratorische<br />
Ruder wieder übernehmend, verwandelte er<br />
die Hallen und Kabinette des CACY in eine<br />
fliessende Raumfolge, welche die Kommunikation<br />
untereinander erlaubt. Das oft mit der<br />
Romandie identifizierte Neo-Geo taucht in<br />
verschiedenen Gruppen mit ausgesprochener<br />
Figuration auf. So hat etwa Sébastien Mettraux,<br />
der Details von Maschinen und Pflanzen hyperrealistisch<br />
in Szene setzt, den Minimalisten<br />
Pierre Schwerzmann sowie Till Rabus gewählt,<br />
der klassische Stillleben mit Massenkonsumgütern<br />
verfremdet. Sie sind Vertreter einer eher<br />
properen Malerei.<br />
Umso mehr fallen in der kurzweiligen Ausstellung<br />
die Positionen auf, die gestisch sind, wie<br />
Peter Roesch (Wahl Caroline Bachmann), der<br />
mit horizontalen «Pinselstreicheleien» in Blutorange<br />
eine reichhaltige Landschaft evoziert,<br />
oder Gilles Furtwängler und Anjesa Dellova<br />
HINWEISE // STEIN AM RHEIN / WINTERTHUR / YVERDON-LES-BAINS<br />
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