Kunstbulletin Juli/August 2023
Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.
stellungsraum mit Cheminée – das Gebäude des Kunstmuseums Thun war einst ein Hotel – mutet mit Kallats Werken wie ein mittelalterliches Kuriositätenkabinett an. Dass Grenzen nicht nur territoriale, sondern auch soziale und psychologische Auswirkungen haben, zeigt sich in Arbeiten wie ‹Ruled Paper (red, blue, white)›, 2015–2022. Die weissen Blätter der Serie erinnern mit ihren geraden, wiederum aus Elektrodraht geformten Linien in den Farben Rot und Blau an Seiten von Schulheften, auf denen die Schönschreibschrift geübt wird. Im Bewusstsein um die symbolische Bedeutung der gewählten Farbtöne – die Flaggenfarben der britischen Kolonialregierung in Indien – stellt sich die Frage, wessen Wissen gelernt werden muss und welche Sichtweisen vorherrschen, wobei die Vermutung einer politischen und ideologischen Indoktrination mitschwingt. Aber das Werk macht auch deutlich, dass Linien aufgebrochen und verschoben werden können: Im Zentrum jedes Blattes winden sich die Drähte plötzlich zu freien, amorphen Gebilden. Ein Appell, sich der eigenen Perspektive bewusst zu werden und sein Handeln mit allen Konsequenzen zu hinterfragen? Kann die Arbeit im übertragenen Sinn sogar auf die gegenwärtigen Diskussionen um die Neutralität der Schweiz gelesen werden? Gegen das Vergessen und für eine Positionierung Gegen das Vergessen stellt sich die Installation, ‹Verso-Recto-Recto-Verso›, 2017–2019, aus zehn textilen Schriftrollen, für deren Produktion Kallat mit Arbeiter:innen aus Gujarat – der Hochburg dieser Handwerkskunst – zusammenarbeitete. Die gefärbte Seide zeigt englische Auszüge von Verfassungstexten. Die Künstlerin ersetzt darin Wörter wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Frieden in die zwar universelle Brailleschrift, die im Stoff aber kein Relief abzeichnet. Dadurch wird der Text sowohl für Sehende als auch für Blinde unlesbar. Die Metapher der Blindheit suggeriert, dass die gemeinsamen Werte nicht mehr verstanden werden, und hält dazu an, die Erinnerung wachzuhalten. «Das Gedächtnis ist ein wichtiger Untersuchungsgegenstand, der nicht nur daraufhin befragt werden soll, was wir als erinnernswert wählen, sondern auch im Hinblick darauf, wie wir über die Vergangenheit nachdenken», sagt Reena Saini Kallat. Während die Aare stetig am Kunstmuseum Thun vorbeifliesst, rauscht einem beim Verlassen des Hauses auch die Ausstellung nach und lässt die Gedanken noch lange um diese existenziellen Themen kreisen. Mit Blick aufs Wasser wird mir bewusst, wie das Element auch verbinden kann und ein Schwumm in der Aare zumindest städtische Grenzen und einige gesellschaftliche Unterschiede wegzuspülen vermag. Die Zitate sind aus dem Englischen übersetzt und stammen aus einem Gespräch mit der Künstler in in Thun am 5.6.2023. Seraina Peer ist Kunsthistorikerin und Doktorandin an der Universität Bern, lebt in Chur und Bern. seraina.peer@bluewin.ch → ‹Reena Saini Kallat – Deep Rivers Run Quiet›, Kunstmuseum Thun, bis 3.9. ↗ kunstmuseumthun.ch FOKUS // REENA SAINI KALLAT 59
Reto Müller — Die Welt als temporärer Aggregatzustand Reto Müller. Foto: Sebastian Stadler Anlässlich des Manor Kunstpreises Schaffhausen bespielt der Künstler Reto Müller den Wechselsaal und das Kabinett des Museum zu Allerheiligen. An der Grenze zwischen freier Gestaltung und normierter Formgebung fokussiert er auf Prozesse des Um- und Abformens. Seine skulpturalen Arbeiten setzt er aus diversen Gesteinen und Metallen als ‹Potentielle Normalien› in ein assoziatives Bedeutungsgeflecht. Mit feinem Gespür für Materialien und Raum gelingt es ihm, eine Resonanz zwischen Gegenwart und Geschichte zu erzeugen. Andrin Uetz 60 Kunstbulletin 7-8/2023
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stellungsraum mit Cheminée – das Gebäude des Kunstmuseums Thun war einst ein<br />
Hotel – mutet mit Kallats Werken wie ein mittelalterliches Kuriositätenkabinett an.<br />
Dass Grenzen nicht nur territoriale, sondern auch soziale und psychologische<br />
Auswirkungen haben, zeigt sich in Arbeiten wie ‹Ruled Paper (red, blue, white)›,<br />
2015–2022. Die weissen Blätter der Serie erinnern mit ihren geraden, wiederum aus<br />
Elektrodraht geformten Linien in den Farben Rot und Blau an Seiten von Schulheften,<br />
auf denen die Schönschreibschrift geübt wird. Im Bewusstsein um die symbolische<br />
Bedeutung der gewählten Farbtöne – die Flaggenfarben der britischen Kolonialregierung<br />
in Indien – stellt sich die Frage, wessen Wissen gelernt werden muss und welche<br />
Sichtweisen vorherrschen, wobei die Vermutung einer politischen und ideologischen<br />
Indoktrination mitschwingt. Aber das Werk macht auch deutlich, dass Linien aufgebrochen<br />
und verschoben werden können: Im Zentrum jedes Blattes winden sich die<br />
Drähte plötzlich zu freien, amorphen Gebilden. Ein Appell, sich der eigenen Perspektive<br />
bewusst zu werden und sein Handeln mit allen Konsequenzen zu hinterfragen?<br />
Kann die Arbeit im übertragenen Sinn sogar auf die gegenwärtigen Diskussionen um<br />
die Neutralität der Schweiz gelesen werden?<br />
Gegen das Vergessen und für eine Positionierung<br />
Gegen das Vergessen stellt sich die Installation, ‹Verso-Recto-Recto-Verso›,<br />
2017–2019, aus zehn textilen Schriftrollen, für deren Produktion Kallat mit<br />
Arbeiter:innen aus Gujarat – der Hochburg dieser Handwerkskunst – zusammenarbeitete.<br />
Die gefärbte Seide zeigt englische Auszüge von Verfassungstexten. Die<br />
Künstlerin ersetzt darin Wörter wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Frieden in<br />
die zwar universelle Brailleschrift, die im Stoff aber kein Relief abzeichnet. Dadurch<br />
wird der Text sowohl für Sehende als auch für Blinde unlesbar. Die Metapher der<br />
Blindheit suggeriert, dass die gemeinsamen Werte nicht mehr verstanden werden,<br />
und hält dazu an, die Erinnerung wachzuhalten. «Das Gedächtnis ist ein wichtiger<br />
Untersuchungsgegenstand, der nicht nur daraufhin befragt werden soll, was wir als<br />
erinnernswert wählen, sondern auch im Hinblick darauf, wie wir über die Vergangenheit<br />
nachdenken», sagt Reena Saini Kallat.<br />
Während die Aare stetig am Kunstmuseum Thun vorbeifliesst, rauscht einem beim<br />
Verlassen des Hauses auch die Ausstellung nach und lässt die Gedanken noch lange<br />
um diese existenziellen Themen kreisen. Mit Blick aufs Wasser wird mir bewusst, wie<br />
das Element auch verbinden kann und ein Schwumm in der Aare zumindest städtische<br />
Grenzen und einige gesellschaftliche Unterschiede wegzuspülen vermag.<br />
Die Zitate sind aus dem Englischen übersetzt und stammen aus einem Gespräch mit der Künstler in in Thun<br />
am 5.6.<strong>2023</strong>.<br />
Seraina Peer ist Kunsthistorikerin und Doktorandin an der Universität Bern, lebt in Chur und Bern.<br />
seraina.peer@bluewin.ch<br />
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↗ kunstmuseumthun.ch<br />
FOKUS // REENA SAINI KALLAT<br />
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