Kunstbulletin Juli/August 2023
Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.
Gina Folly · Autofokus, 2023, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Basel | Gegenwart. Foto: Emanuel Rossetti Gina Folly · Quasitutto XIV (Michael beim Entsorgen einer Matratze), 2023, C-Print, gerahmt, 60 x 80 cm BESPRECHUNGEN // BASEL 95
Daniela Keiser — Monumentales in die Schwebe bringen Die Abbatiale Bellelay wird diesen Sommer von Daniela Keiser bespielt. Dem barocken Ornament hält die Zürcherin Vogelfedern entgegen, dem Gewicht der Deckengewölbe die Schwerelosigkeit einer Bodenfreske, aufgetragen mit einer hellen Mischung aus Pferdeurin und lokalem Jurakalk. Bellelay — In der Abteikirche von Bellelay, wo jedes Wort mehrere Sekunden nachhallt, ist etwas geschehen. ‹Das grosse Ticken›, so der halbe Titel von Daniela Keisers Installation, wird angeregt von einem Diaprojektor, der in einer Nische vor sich hinklickt. Die Projektion der 80 ‹Umm-images›, aufgenommen während der Recherchen für diese Arbeit, bildet auf einem kleinen Stück Wand einen Ort der Konzentration. Sie liefert auch einen Kontrapunkt zur Bodenfreske, die sich wie ein Gewitter über die 800 Quadratmeter Grundfläche des monumentalen Kirchenraums ergiesst. ‹Le silence des oiseaux chanteurs›, so die zweite Hälfte des Titels, verweist, wie der Name des Bodenbildes ‹Heute Morgen, auf dem Weg zur Zahnärztin schwebte ein Rotmilan über mir›, auf den Himmel, gegen den die Kamera der Künstlerin sich hier öfters richtet – eine Blickachse, die mitunter der Kirchenraum provoziert hat. Der ärztliche Bezug ist ein Verweis auf die psychiatrische Klinik, die während 130 Jahren im ehemaligen Kloster untergebracht war. Sie ist an diesem abgelegenen Ort, zusammen mit dem derzeitigen Rückkehrzentrum, eine der leidvollen Zwischennutzungen, seit der Säkularisierung der Klosteranlage nach der Französischen Revolution. Daniela Keiser hat sich intensiv mit der repräsentierten Macht und der architektonischen Verdichtung in barocken Räumen beschäftigt. Ihre Intervention bildet gerade durch die Schwerelosigkeit der Diaprojektion und der Bodenfreske ein Gegengewicht zur Überwältigungsstrategie des wuchtigen Bauwerks. Darin nimmt ihre Arbeit nicht eine bestimmte Position ein, vielmehr erfüllt sie den Raum mit der Reflexion, die vom leuchtendgelben, orangen, grünen und fliederfarbenen Tapetendruck am Boden auf die kalkweiss gestrichenen Mauern und Gewölbe geworfen wird. Die ebenso kalkweis sen Strichzeichnungen an den Rändern der Tapetenflächen und in den Leerräumen des gekachelten Kirchenbodens legen sogar Leichtigkeit frei. Die Arbeit nimmt den Rhythmus der Mauern, Gewölbe und des Lichts auf, das morgens die Kirchenfenster durchwandert. Die Künstlerin hat viele Wochen im winterkalten, im Frühling kühlen Kirchenraum des verlassenen Klosters verbracht und den «genius loci» in Bilder, Töne, Farbstimmungen und Blitzgewitter übersetzt. Die Arbeit lässt sich auch von der Empore her in der Übersicht betrachten. Das schwebende Gleichgewicht zwischen Monumentalität und bewegter Stille entfaltet sich allerdings vor allem auf Augenhöhe. Sabine von Fischer → ‹Daniela Keiser – Das grosse Ticken: Le silence des oiseaux chanteurs›, Abbatiale Bellelay, bis 3.9.; mit Publikation, edition fink, Zürich ↗ abbatialebellelay.ch 96 Kunstbulletin 7-8/2023
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Daniela Keiser — Monumentales in die Schwebe bringen<br />
Die Abbatiale Bellelay wird diesen Sommer von Daniela Keiser<br />
bespielt. Dem barocken Ornament hält die Zürcherin Vogelfedern<br />
entgegen, dem Gewicht der Deckengewölbe die Schwerelosigkeit<br />
einer Bodenfreske, aufgetragen mit einer hellen Mischung<br />
aus Pferdeurin und lokalem Jurakalk.<br />
Bellelay — In der Abteikirche von Bellelay, wo jedes Wort mehrere Sekunden nachhallt,<br />
ist etwas geschehen. ‹Das grosse Ticken›, so der halbe Titel von Daniela Keisers<br />
Installation, wird angeregt von einem Diaprojektor, der in einer Nische vor sich hinklickt.<br />
Die Projektion der 80 ‹Umm-images›, aufgenommen während der Recherchen<br />
für diese Arbeit, bildet auf einem kleinen Stück Wand einen Ort der Konzentration.<br />
Sie liefert auch einen Kontrapunkt zur Bodenfreske, die sich wie ein Gewitter über<br />
die 800 Quadratmeter Grundfläche des monumentalen Kirchenraums ergiesst.<br />
‹Le silence des oiseaux chanteurs›, so die zweite Hälfte des Titels, verweist, wie<br />
der Name des Bodenbildes ‹Heute Morgen, auf dem Weg zur Zahnärztin schwebte<br />
ein Rotmilan über mir›, auf den Himmel, gegen den die Kamera der Künstlerin sich<br />
hier öfters richtet – eine Blickachse, die mitunter der Kirchenraum provoziert hat. Der<br />
ärztliche Bezug ist ein Verweis auf die psychiatrische Klinik, die während 130 Jahren<br />
im ehemaligen Kloster untergebracht war. Sie ist an diesem abgelegenen Ort, zusammen<br />
mit dem derzeitigen Rückkehrzentrum, eine der leidvollen Zwischennutzungen,<br />
seit der Säkularisierung der Klosteranlage nach der Französischen Revolution.<br />
Daniela Keiser hat sich intensiv mit der repräsentierten Macht und der architektonischen<br />
Verdichtung in barocken Räumen beschäftigt. Ihre Intervention bildet<br />
gerade durch die Schwerelosigkeit der Diaprojektion und der Bodenfreske ein Gegengewicht<br />
zur Überwältigungsstrategie des wuchtigen Bauwerks. Darin nimmt ihre<br />
Arbeit nicht eine bestimmte Position ein, vielmehr erfüllt sie den Raum mit der Reflexion,<br />
die vom leuchtendgelben, orangen, grünen und fliederfarbenen Tapetendruck<br />
am Boden auf die kalkweiss gestrichenen Mauern und Gewölbe geworfen wird. Die<br />
ebenso kalkweis sen Strichzeichnungen an den Rändern der Tapetenflächen und in<br />
den Leerräumen des gekachelten Kirchenbodens legen sogar Leichtigkeit frei. Die<br />
Arbeit nimmt den Rhythmus der Mauern, Gewölbe und des Lichts auf, das morgens<br />
die Kirchenfenster durchwandert. Die Künstlerin hat viele Wochen im winterkalten,<br />
im Frühling kühlen Kirchenraum des verlassenen Klosters verbracht und den «genius<br />
loci» in Bilder, Töne, Farbstimmungen und Blitzgewitter übersetzt. Die Arbeit lässt<br />
sich auch von der Empore her in der Übersicht betrachten. Das schwebende Gleichgewicht<br />
zwischen Monumentalität und bewegter Stille entfaltet sich allerdings vor<br />
allem auf Augenhöhe. Sabine von Fischer<br />
→ ‹Daniela Keiser – Das grosse Ticken: Le silence des oiseaux chanteurs›, Abbatiale Bellelay, bis 3.9.;<br />
mit Publikation, edition fink, Zürich ↗ abbatialebellelay.ch<br />
96 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>