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Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

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hat, um ihn dann wieder in seiner Ursprungsform zusammenzufügen. Durch den Sägevorgang<br />

wird ein Teil des Gesteins unwiederbringlich abgetragen, sodass dieses<br />

neu zusammengesetzt eine Art Bildstörung erzeugt.<br />

An der Wand angebracht sind mit Blei verbundene ‹Moränensteine I–IX›, <strong>2023</strong>,<br />

welche ein wenig an Lungen erinnern. Wie ein Gitter vor einem geschlossenen Geschäft<br />

hebt sich die ‹Serrande›, <strong>2023</strong>, als verzinkte Schmiedearbeit nur leicht und<br />

unscheinbar von der weissen Fläche ab. Ein ‹Opaker Leuchter›, 2021, aus Zinn hängt<br />

an einer feinen Stange aus Rundstahl so weit von der Decke herab, dass er fast den<br />

Boden berührt. Im kleineren Kabinett finden sich verschiedene mit einer Zinnhaut<br />

überzogene Stahlrahmen, gemeinsam mit Steinschreinern gezimmerte Steinrahmen<br />

sowie die vier Türmchen mit Titel ‹Stele›, <strong>2023</strong>, welche aus sogenannten Opferanoden<br />

gefügt sind. Diese Zinkklötze werden beispielsweise in der Nautik als Schutz vor Korrosion<br />

an Funktionsteilen eingesetzt, indem sich das Zink für den Stahl «aufopfert»<br />

und diesen so beschützt. Üblicherweise hohl, hat Müller die Objekte für seine Zwecke<br />

vollständig mit Zinn ausgegossen.<br />

Zwischen Norm und Gestaltung<br />

Bei allen Arbeiten bewegt sich Reto Müller an der feinen Grenze zwischen gestalterisch<br />

künstlerischem Ausdruck und funktionaler Formgebung. Zwischen Eingriff<br />

und Umdeutung arbeitet er mit der Materialität, mit Industriestandards sowie mit<br />

historischen Zuschreibungen und Geschichten seiner Werkstoffe. Dadurch erzeugen<br />

die «potenziellen Normalien» eine Spannung, auf der die Wirkung der Ausstellung<br />

zumindest teilweise aufbaut: In unaufdringlicher Weise tangiert Müller so grosse<br />

Themen wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Allgemeinheit und<br />

Idiosynkrasie, wobei den Materialien wie Basalt, Zink, Zinn und Gestein selbst eine<br />

Form der Agency zuzukommen scheint. Das normative Moment von austauschbaren<br />

Standards erlebt durch Müllers nahezu emphatische Aufmerksamkeit fürs Material<br />

eine erfrischende Relativierung. Das könnte so gelesen werden, dass gesellschaftliche<br />

Normen zwar ihren Einfluss haben, aber als historische Setzung auch transformiert<br />

und weiterentwickelt werden können.<br />

Gewiss klingen in seiner Arbeit auch Elemente aus der Minimal Art oder der Architektur<br />

des Brutalismus an, doch gelingt es Müller, die eher kühle Formensprache dieser<br />

Kunst- und Architekturströmungen mit einer durchaus verspielten Subjektivität<br />

aufzulockern und in etwas Neues zu transformieren. Oder wie er es selbst formuliert:<br />

«Ich bin kein Bildhauer. Es geht mir darum, an die Grenzen zu gehen von Gestaltung<br />

und Grundform, von Erzählung und dem Kontext, der anhaftet oder abgestreift werden<br />

kann. Das ist vielleicht eine Annäherung an den Grundakt der Aneignung durch<br />

das Gestalten.»<br />

Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit dem Künstler in Schaffhausen am 23.5.<strong>2023</strong>.<br />

Andrin Uetz, Musiker, Kulturjournalist und Klanganthropologe, lebt in Basel und Wien. andrin.uetz@gmail.com<br />

→ ‹Reto Müller – Le nombril du monde. Manor Kunstpreis Schaffhausen <strong>2023</strong>›, Museum zu<br />

Allerheiligen, Schaffhausen, bis 15.10.; Buchpräsentation: 30.9., 14 Uhr ↗ allerheiligen.ch<br />

FOKUS // RETO MÜLLER<br />

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