24.06.2023 Aufrufe

Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Kapitalismus hervor: beispielsweise von industriellen Grossbetrieben oder von der<br />

Textilindustrie, in der prekäre Zustände und zahlreiche Opfer zu verzeichnen sind.<br />

Solche Assoziationen sind durchaus gewollt, wenn man Salcedo zuhört: «Der Wohlstand<br />

akkumuliert sich am einen Ende der Welt, durch Geschäfte, Kolonialisierung, …<br />

Es ist eine Sache, auf physische Art und Weise gewaltvoll Blut zu vergiessen, etwa<br />

wenn ein Kämpfer in Kolumbien jemanden tötet. Aber es gibt auch viele andere Arten<br />

von Gewalt, strukturelle Gewalt, und über die sollten wir auch nachdenken.»<br />

Salcedo verzichtet denn auch auf ein klares Unterteilen in Gut und Böse. Deutlich<br />

wird dies in der Installation ‹Plegaria Muda›, 2008–2010: Längliche Tische füllen einen<br />

ganzen Raum. Jeweils zwei Tische sind Platte auf Platte aufeinandergelegt, zwischen<br />

ihnen eine Schicht Erde, aus der einzelne Grashalme durch die obere Tischplatte<br />

spriessen. Die Szenerie erinnert an einen Friedhof oder ein Massengrab. Die Künstlerin<br />

schuf die Arbeit nach einer Recherche über Bandenkriminalität in Los Angeles.<br />

Die beiden Tischplatten symbolisieren für sie Opfer und Täter. Gerade in Banden- und<br />

Bürgerkriegen seien es häufig ähnliche sozioökonomische Umstände, welche Täter<br />

und Opfer miteinander verbinden: «Wenn man an Armut denkt, an Menschen, die am<br />

Rand der Gesellschaft stehen, gestalten sich die Dinge etwas anders», sagt Salcedo.<br />

«Ethik ist ein Begriff für Privilegierte. Arme Menschen tun bisweilen Dinge, die wir als<br />

unmoralisch empfinden. Oft ist die Situation dabei komplex – diejenigen, die Täter<br />

geworden sind, hätten genauso gut Opfer werden können.»<br />

Was die Kunst tun kann<br />

Wie die Betrachter:innen ihre Werke wahrnehmen, was sie in ihnen sehen und<br />

was sie daraus mitnehmen, darauf will Salcedo keinen Einfluss nehmen. Dennoch<br />

verfolgt sie mit ihrer Kunst ein klares Ziel: «Mein Verständnis von Kunst ist es, die Gesellschaft<br />

auf Dinge hinzuweisen, die vielleicht nicht so gerne gesehen und schnell<br />

vergessen werden. In meiner Arbeit geht es stark um Erinnerung. Die Ereignisse, auf<br />

die ich mich beziehe, liegen schon länger zurück, und das Vergessen setzt langsam<br />

ein. Es geht darum, das Vergessen zu bekämpfen. Erinnerungen formen unsere Zukunft,<br />

deshalb ist das sehr wichtig.»<br />

Neben Opfern von Bandenkriminalität wird in Salcedos Ausstellung unter anderem<br />

der zahlreichen Frauen gedacht, die seit den 1970er-Jahren in Kolumbien auf<br />

ungeklärte Art und Weise verschwunden sind. Wie Andachtsbilder oder Reliquiennischen<br />

sind bei ‹Atrabiliarios›, 1992–2003, entlang der Ausstellungswand Schuhe,<br />

einzeln oder als Paare, in die Wand eingelassen. Verdeckt werden sie von einer halbtransparenten<br />

Pergamenthaut, die mit chirurgischem Faden an die Gipswand genäht<br />

wurde. Hochkant aufgestellt, erinnern die Schuhe an Kruzifixe – aber auch an eine<br />

Auslage im Schuhgeschäft oder an Ballerinen, die auf Zehenspitzen tanzen. Konkrete<br />

Gewalt an Frauen mischt sich in dieser Installation mit struktureller Gewalt, die<br />

sowohl in der Mode wie auch in den von der Gesellschaft vermittelten Frauenbildern<br />

stecken kann. Das Leid, auch wenn das Schicksal der Frauen unbekannt bleibt, ist<br />

förmlich körperlich spürbar. Die wie Käfige wirkenden Schuhboxen, die unter den<br />

32 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!