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Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

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Chiharu Shiota — Kosmologisches Fadenspiel<br />

Den raumfüllenden Garngespinsten von Chiharu Shiota kommt<br />

weltweite Beachtung zu. Mit der Ausstellung ‹Eye to Eye› ist ihr<br />

Werk erstmals in einer musealen Einzelpräsentation in Zürich<br />

erlebbar: Im Haus Konstruktiv verwebt Shiota Filigranes zu Monumentalem<br />

und tief Persönliches mit ergreifend Universellem.<br />

Zürich — Überlegt man sich, welche Funktionen Fäden im Leben einer Webspinne<br />

erfüllen, mag einem nach dem schützenden Kokon, dem beuteschlagenden Netz und<br />

dem signalvermittelnden Strang auch die luftige Traverse in den Sinn kommen. Diese<br />

war für Chiharu Shiota (*1972, Osaka) von Bedeutung, als sie mit Garn zu arbeiten<br />

begann: Das zweidimensionale Medium der Zeichnung wollte sie in den Raum<br />

überführen. Anfänglich spannte sie Fäden zwischen eigene Alltagsgegenstände und<br />

durch ihren Berliner Dachboden, später wurden in ausgreifendere Gespinste massenhaft<br />

fremde Gebrauchsobjekte verwickelt: Schuhe, Kleider und Koffer – oder rund<br />

180’000 Schlüssel im Japanischen Pavillon an der 56. Biennale von Venedig.<br />

In der Installation ‹Eye to Eye›, <strong>2023</strong>, sind es Brillen, die an roten Fäden von der<br />

Decke des Haus Konstruktiv baumeln. Unzählig und dicht gehängt, lassen die Fundstücke<br />

und ihre vertikalen Verbindungen den Ausstellungsraum ausser Sicht geraten:<br />

Die architektonischen Grenzen sind zu einem unendlichen Universum geweitet,<br />

das beim Durchschreiten zur Begegnung mit den Augengläsern einlädt. Einst zierten<br />

sie Gesichter, nun erweisen sie sich als Relikte, die im flirrenden Fadenkosmos die<br />

Präsenz von physisch Abwesenden aufflackern lassen.<br />

Körperliche Vergänglichkeit ist seit einer schweren Erkrankung Shiotas ein Leitmotiv<br />

ihres Werks. Der monumentalen Installation, die das titelgebende Herzstück<br />

der Ausstellung bildet, stellt die Museumsdirektorin Sabine Schaschl skulpturale Objekte,<br />

Leinwandarbeiten und Zeichnungen aus Shiotas jüngster Schaffensphase zur<br />

Seite. Diese lassen an Wandlung und Auflösung unserer physischen Beschaffenheit<br />

denken: Rot gefärbtes Leder schwebt in Fetzen über bronzenen Füssen. Glas, Draht<br />

und Watte fügen sich zu zellartigen Anhäufungen. Und in den zahlreichen Papierarbeiten<br />

sind kleine Figuren durch Stickgarn mit grossflächigen Kreidemustern verbunden,<br />

die in hellem Rot wie durchblutetes Gewebe, in dunklem Blau wie der nächtliche Himmel<br />

anmuten. Angesichts des Todes stehe ihr Körper in grösster Nähe zum Kosmos,<br />

notierte Shiota während ihrer Krebsbehandlung. Und das Sterben sei ein Umzug in<br />

ein grösseres Universum. Davon erzählt sie in ‹Eye to Eye›. Ihre Fäden dienen nicht nur<br />

als luftige Traversen – wie der Spinnenkokon lassen sie auch Aspekte der Umformung<br />

und des Aufgehobenseins unserer Existenz anklingen. <strong>Juli</strong>a Schmidt<br />

→ ‹Chiharu Shiota – Eye to Eye›, Museum Haus Konstruktiv, bis 10.9. ↗ hauskonstruktiv.ch<br />

→ ‹Chiharu Shiota – Who am I Tomorrow?›, Kunstraum Dornbirn, 7.7.–9.11. ↗ kunstraumdornbirn.at<br />

118 <strong>Kunstbulletin</strong> 7-8/<strong>2023</strong>

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