Kunstbulletin Juli/August 2023
Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.
Reena Saini Kallat · Vortex, 2022, Elektrodraht, Metall, 274 x 170 cm, Ausstellungsansicht Kunst museum Thun. Foto: David Aebi FOKUS // REENA SAINI KALLAT 55
nach Sir Henry McMahon, früherer Aussenminister von Britisch-Indien, wurde die Grenze 1914 gezogen, um das dicht besiedelte Gebiet des indischen Subkontinents in unabhängige Territorien aufzuteilen. Diese konstruierte Grenzlinie entspricht ungefähr dem heutigen Grenzverlauf zwischen den von Indien und China kontrollierten Regionen. Während sie aus indischer Sicht allerdings als permanent angesehen wird, ist sie für China nur vorläufig. Konflikte sind vorprogrammiert. Die Verwendung von Elektrodraht ist ein weiteres Charakteristikum von Kallats Œuvre. Während das Material, als Kommunikationsinfrastruktur eingesetzt, Menschen miteinander verbinden kann, beinhaltet es in Form von elektrischen Stacheldrahtzäunen zur Grenzkontrolle gleichermassen ein gewaltsames Potenzial. Diese Ambiguität von Verbindung und Trennung, Gewalt und Hoffnung kommt in den Werken deutlich zum Ausdruck. Subtil verweisen sie darauf, dass gesellschaftspolitische Konstellationen oft komplex sind und viele Nuancen aufweisen. Das Netzwerk der Ungleichheit Eine wandfüllende, aus farbigem elektrischem Stacheldraht gewobene Landkarte lässt unzählige Verknüpfungen zwischen einzelnen Ländern erkennen. ‹Woven Chronicle› hat Kallat seit 2015 in unterschiedlichen Versionen realisiert. In Thun zeichnet sie länderspezifische, ökologische Fussabdrücke nach und visualisiert damit das Beziehungsnetzwerk und die Diskrepanz zwischen Globalem Norden und Globalem Süden. Auf einer auditiven Ebene erklingt dazu ein Gemenge an Geräuschen, in dem sich das Surren von Hochspannungsleitungen mit Tönen aus der Tiefsee vermischt, überlagert von Sirenen, Schiffshörnern und Zugvogelstimmen. Unterschiede zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre und die Bewegungsfreiheiten oder -zwänge, die damit einhergehen, spricht Kallat in verschiedenen Werken an. Die mehrteilige Fotoarbeit ‹Pattern Recognition›, 2022, nimmt Bezug auf ein Mobilitätsgefälle während der COVID-19-Reisebeschränkungen: Ein japanischer Reisepass gewährte 2022 Zugang zu 193 Ländern, Menschen aus Afghanistan konnten nur in 26 Länder einreisen. In ‹Colour Curtain (between shores and the seas)›, 2009, sind bunte Gummistempel – Symbol von Autorität und Bürokratie – zu einer Kordel gefügt, ähnlich wie man sie von Absperrungen auf Flughäfen kennt. Die Prägungen der Stempel zeigen Namen von Personen, deren Visumsanträge abgelehnt wurden. Hinter der fröhlichen Anmutung der Installation versteckt sich ein starkes Sinnbild für systemische Ungleichheiten. Von Landkarten, Symbolen, Vögeln und Utopien Mit einer positiven Note endet die Werkgruppe ‹Siamese Trees›, 2018: Zwei Baumkronen, geflochten aus Elektrodraht, münden in einen einzigen Stamm. Kopfüber gestellt, erinnern sie an menschliche Lungen und unterstreichen das lebensnotwendige Zusammenspiel ihrer Hälften. Typische Baumarten von Ländern, die eine konfliktreiche Grenze teilen, vereinigen sich hier symbolisch und ignorieren mit ihrem drahtigen Wurzelnetzwerk die ihnen auferlegten geografischen Grenzen. Diese Ei- 56 Kunstbulletin 7-8/2023
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Reena Saini Kallat · Vortex, 2022, Elektrodraht, Metall, 274 x 170 cm, Ausstellungsansicht<br />
Kunst museum Thun. Foto: David Aebi<br />
FOKUS // REENA SAINI KALLAT<br />
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