Kunstbulletin Juli/August 2023

Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm. Unsere Juli/August Ausgabe für 2023 mit Beiträgen zu Doris Salcedo, Franz Hohler, Reena SainiKallat, Reto Müller, uvm.

24.06.2023 Aufrufe

Editorial — Im Spiegel des Materials Es ist ein verblüffender und betörender Anblick: Tausende Rosenblütenblätter wurden sorgfältig zu einem gigantischen Tuch zusammengenäht, das sich faltig über den Boden eines Ausstellungsraums in der Fondation Beyeler legt. Seine fleischige Farbigkeit und seine Fragilität erinnern an die Vergänglichkeit, die zusammenhaltenden Stiche an chirurgische Nähte – Aspekte, welche die Schönheit des Werks düster grundieren. Inspiration dafür war denn auch Ungeheuerliches: Doris Salcedo hatte zu einer kolumbianischen Krankenschwester recherchiert, die entführt und zu Tode gefoltert worden war. Immer wieder gelingt es der Künstlerin, Ereignisse wie dieses aus ihrem gewaltgeprägten Heimatland mit feinem Gespür für Materialien und für das komplexe (Un-)Gleichgewicht der Welt in poetisch kritische Installationen zu verwandeln. Auch Reena Saini Kallat findet ihren «Kunst-Stoff» in Realitäten der Gewalt und macht Letztere in ihren nicht minder feinsinnigen Werken materiell sichtbar: Häufig nutzt sie Elektro- oder gar Stacheldraht, um – aktuell im Kunstmuseum Thun – bildlich und installativ auf Grenzkonflikte zu verweisen. Vordergründig unpolitisch ist das minimalistisch anmutende Œuvre von Reto Müller, der derzeit im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen ausstellt. Mit Objekten von höchster formaler Präzision denkt er über Normen und Abweichungen nach und zeigt in seiner Aufmerksamkeit für Eigenheiten von Materialien eine sorgsame Haltung zur Welt, die nottut. Einer, der Politik, Poesie und Humor schon ein Leben lang in der Balance hält, ist Franz Hohler. Aus Anlass seines 80. Geburtstags und der damit verbundenen Ausstellungen in Olten hat ihn die Kunstbulletin-Redaktion zum Gespräch getroffen und dabei gelernt: Nonsens ist ebenso wichtig wie Konsens. Deborah Keller TITELBILD · Doris Salcedo · A Flor de Piel II, 2013/14 (Detail), Rosenblütenblätter und Garn, Masse variabel, Tate. Foto: Patrizia Tocci 3

Alice Channer Heavy Metals / Silk Cut Alice Channer, Dry Cask (Silk Cut) (detail), 2023, Courtesy the artist and Konrad Fischer Galerie, photo: Lucy Dawkins 2.7. – 8.10.2023 Kunstmuseum / Kunsthalle Appenzell Kunstmuseum Appenzell / Kunsthalle www.kunstmuseum–kunsthalle.ch

Editorial — Im Spiegel des Materials<br />

Es ist ein verblüffender und betörender Anblick: Tausende Rosenblütenblätter<br />

wurden sorgfältig zu einem gigantischen Tuch zusammengenäht,<br />

das sich faltig über den Boden eines Ausstellungsraums<br />

in der Fondation Beyeler legt. Seine fleischige Farbigkeit und<br />

seine Fragilität erinnern an die Vergänglichkeit, die zusammenhaltenden<br />

Stiche an chirurgische Nähte – Aspekte, welche die Schönheit<br />

des Werks düster grundieren. Inspiration dafür war denn auch<br />

Ungeheuerliches: Doris Salcedo hatte zu einer kolumbianischen<br />

Krankenschwester recherchiert, die entführt und zu Tode gefoltert<br />

worden war. Immer wieder gelingt es der Künstlerin, Ereignisse wie<br />

dieses aus ihrem gewaltgeprägten Heimatland mit feinem Gespür<br />

für Materialien und für das komplexe (Un-)Gleichgewicht der Welt<br />

in poetisch kritische Installationen zu verwandeln.<br />

Auch Reena Saini Kallat findet ihren «Kunst-Stoff» in Realitäten<br />

der Gewalt und macht Letztere in ihren nicht minder feinsinnigen<br />

Werken materiell sichtbar: Häufig nutzt sie Elektro- oder gar Stacheldraht,<br />

um – aktuell im Kunstmuseum Thun – bildlich und installativ<br />

auf Grenzkonflikte zu verweisen. Vordergründig unpolitisch ist<br />

das minimalistisch anmutende Œuvre von Reto Müller, der derzeit<br />

im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen ausstellt. Mit Objekten<br />

von höchster formaler Präzision denkt er über Normen und Abweichungen<br />

nach und zeigt in seiner Aufmerksamkeit für Eigenheiten<br />

von Materialien eine sorgsame Haltung zur Welt, die nottut. Einer,<br />

der Politik, Poesie und Humor schon ein Leben lang in der Balance<br />

hält, ist Franz Hohler. Aus Anlass seines 80. Geburtstags und der<br />

damit verbundenen Ausstellungen in Olten hat ihn die <strong>Kunstbulletin</strong>-Redaktion<br />

zum Gespräch getroffen und dabei gelernt: Nonsens<br />

ist ebenso wichtig wie Konsens. Deborah Keller<br />

TITELBILD · Doris Salcedo · A Flor de Piel II, 2013/14 (Detail), Rosenblütenblätter und Garn, Masse<br />

variabel, Tate. Foto: Patrizia Tocci<br />

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