© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11 wir die Vorhänge zerrissen und die Fenster geöffnet hatten, zum Ende der Schlacht werden wir nicht vergessen sein! Und wir werden daliegen, fuhr ich fort, mit zerfressenen blutenden Augen... Und die Ratten werden über unsere Abdomina tanzen, hat er gelächelt, und fröhlich quieken dabei... - - In dieser Nacht hatte ich geschlafen und nicht geträumt währenddes, ich meine, ich hatte zum ersten Mal keine Erinnerungen wiederbeschaffen noch irgendwelche Schlußfolgerungen formulieren oder überhaupt irgend etwas verifizieren müssen. Ich hatte also geschlafen, vielleicht nicht anders unbeirrbar geschlafen als Kinder unbeirrbar schlafen in jenen Nächten, die dem Krieg vorausgehen. So war ich denn aufgewacht und agnoszierte abermals den zwölfjährigen Mozart neben jenem Bette stehen geradeso, als würde er die Totenwache halten. Was er wolle, schalt ich ihn sogleich, was er endlich wolle von mir? Daß ich nicht geträumt hätte, flüsterte er, nicht geträumt hätte von ihm und nicht von irgendeinem... Dafür daß ich schlafen kann, habe ich gesagt, habe ich nun mich selbst verkaufen müssen, und es reut mich nicht! Welchen Teil ich also hätte hergeben müssen für diese Stunden Schlaf, frug er und schien ehrlich betrübt. Den ganzen Teil, habe ich geantwortet, ja, den ganzen Teil habe ich eingetauscht! - - Ich stand jetzt vor dem Fenster und brannte eine Zigarette an, dieweil ich die Sonne staunte, als ich mit einemmal Mozarts Hand meine rechte Schulter karessieren fühlte in jener Art, die vielleicht den Müttern ähnelt. Zum Ende der Schlacht, hat er in mein Ohr geflüstert, wirst Du Dich erinnern an diesen Morgen...und Du wirst Dich an diese Stadt erinnern...und an ihre Straßen und Hinterhöfe... Vielleicht werde ich das, habe ich gelächelt; aber vielleicht werde ich auch nur wie ein zertrümmertes Käferchen im Bombentrichter liegen und schreien... Und dort unten wirst Du Dich nicht erinnern, frug er mich erstaunt. Am Grund dieses Trichters werde ich schreien, habe ich gesagt, und die verlorengegangenen Erinnerungen werden sich erfüllen in meinen duktilen lästernden schwingenden Hilferufen vielleicht nur insofern, als sie nicht anders zerbröckeln werden wie mein Körper! - - Im Foyer dann um 16 Uhr 10 vielleicht, wo die kleinen Geschwister der Soldaten an deren Uniformen schnupperten, traf ich den Herrn Direktor wieder, der eben dabei war, den Tornister dem Gepäcksjungen umzuschnallen. Ah, der Herr Hauptmann, rief er begeistert und winkte mich heran. Sie haben sich entschieden, hub er an und legte seine Hand auf die Schulter des Gepäcksjungen geradeso, als würde er ihn palpieren, sintemal ja der Krieg selbst schon ein Diener ist. Ich habe mich entschieden, hub ich an, ja, ich habe mich entschieden vielleicht nur deshalb, weil wir uns endlich immer für etwas entscheiden sollen... Es ist nicht mein Interesse, wann Sie sich entschieden haben oder wofür, Herr Hauptmann, begann der Direktor in durchaus amikaler Weise, sondern daß Sie sich entschieden haben! Ich nickte mit dem Kopf und bedeutete indes dem Gepäcksjungen, an meiner Statt zu antworten, sintemal ich selbst jetzt nicht mehr wußte, ob ich den 76
© Heinrich Kantura/Peter Christoph Schwartz, A-1010 Wien, Hafnersteig 5/1/2/11 Direktor lieben müßte oder vielleicht nur davonlaufen hätte sollen. Aber der Gepäcksjunge schwieg, und mich bedünkte, daß er zu jenem Moment an die Ratten dachte, die er fangen hatte wollen und töten. - - - Diese Schlacht hatte begonnen. Die Soldaten beider Seiten sprangen aus ihren Gräben. Sie trafen sich irgendwo zwischen den Trichtern und den zerrissenen Feuerstellungen vergangener Frontlinien. - - Und dort, irgendwo in diesem Niemandsland von Blut und Lärm, war es geschehen, daß ich stürzte. 77