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Die Leonidow-Kugel. Zur technischen Paßfähigkeit moderner ... - WZB

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konsequentesten und sichtbarsten Ausdruck fand (Vogt 1969). <strong>Die</strong> markantesten<br />

und in der Architekturgeschichte bis dahin einmaligen Entwürfe waren Etienne-Louis<br />

Boullees „Newton-Denkmal" (1784), Claude Ledouxs „Friedhof für Chaux" sowie sein<br />

„Wandbild" und sein „<strong>Kugel</strong>haus" (um 1790). Zu diesen Entwürfen könnte auch der<br />

„Altar der Agathe Tyche" (1777) gezählt werden, den Johann Wolfgang von Goethe<br />

und der Herzog von Weimar haben errichten lassen. In der Folgezeit nahmen dann<br />

auch andere europäische und nordamerikanische Architekten, so etwa Thomas<br />

Jefferson, der dritte Präsident der USA, das <strong>Kugel</strong>motiv in ihren Arbeiten auf.<br />

Durchsetzen indes konnte es sich nicht. Im Gegenteil, es wurde<br />

zurückgedrängt. 1807 beispielsweise griff Napoleon persönlich mit einem Dekret in<br />

den Wettbewerb um die Pariser „Madeleine" ein, stieß einen Jury-Entscheid um und<br />

setzte ein Projekt durch, das der geometrischen Tendenz im allgemeinen und dem<br />

<strong>Kugel</strong>motiv im besonderen diametral gegenüberstand. In den nächsten einhundert<br />

Jahren war dann eine spürbare Rückbildung dieser architektonischen Figur zu<br />

beobachten. Sie ließ sich nur noch als Rudiment beziehungsweise überhaupt nicht<br />

mehr ausmachen. Vogt diskutiert diesen Rückzug der <strong>Kugel</strong> am Beispiel der vom<br />

Ledoux-Schüler Thomas de Thomon entworfenen „Börse auf der Strelka in St.<br />

Petersburg" (1805) - ein Architekton, auf das sich <strong>Leonidow</strong> in seinem<br />

„Wettbewerbsentwurf für das Gebäude des Narkomtjashprom in Moskau" (1934) in<br />

einer anderen aber ebenso unzweideutigen Poetik der reinen Form bezog (Chan-<br />

Magomedow 1983, Abb. 704-706).<br />

Betrachtet man die Karriere des <strong>Kugel</strong>-Architektons vor dem Hintergrund der<br />

von Peter Wagner entworfenen »Soziologie der Moderne« (Wagner 1995),<br />

insbesondere im Hinblick auf die dort skizzierten gesellschaftlichen Öffnungs- und<br />

Schließungsphasen, und im Lichte der in diesen Phasen jeweils entwickelten Sozial-<br />

und Architektur-Utopien, dann liegt eine doppelte Vermutung nahe. Zum einen, daß<br />

das Auftauchen der <strong>Kugel</strong> Öffnungs- und ihr Verschwinden Schließungsphasen der<br />

Moderne signalisiert. Zum anderen, daß sie eine Vergrößerung respektive<br />

Verkleinerung des gesellschaftlichen Utopiepotentials anzeigt.<br />

Vieles spricht dafür, daß überall dort, wo der mathematisch-physikalische<br />

Idealkörper als Architekton Raum greift, ein Frage- und ein Ausrufungszeichen in die<br />

Welt gesetzt wird: Ein Fragezeichen im Hinblick auf bestehende Ordnungen, des<br />

Denkens, Träumens, Fühlens und Handelns; ein Ausrufungszeichen, was die<br />

Aufforderung anbelangt, diese Ordnungen (selbst-)kritisch zu hinterfragen, um sie<br />

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