Die Leonidow-Kugel. Zur technischen Paßfähigkeit moderner ... - WZB

Drittens gelang der Palast-Architektur eine, fast möchte man sagen
grandiose, Synthese von historisch- und gegenwarts-zentriertem
Antifunktionalismus. In den Figuren der Alltagshelden verschmolzen Fürst Newski,
Iwan der Schreckliche, Budjonny, Kosak und Mushik zu einer Person. Die bebilderte
Beschwörung der Qualen zaristischer Leibeigenschaft ging nahtlos in die Verklärung
ihrer ländlichen Idyllen über. Im Emblem der Traktoristin schlug Mütterchen Rußland
höchstpersönlich die Ernteschlachten. In dieser Synthese konnte sich die Palast-
Architektur nicht nur gleichermaßen dem Professor und dem Analphabeten
andienen, sondern sich auch plebejisch-liberal in Positur werfen.
Viertens schließlich profitierte die Palast-Architektur davon, daß Architekten,
die den mensch-zentrierten Funktionalismus in den 20er Jahren wesentlich
beeinflußt und befördert hatten, wie beispielsweise die Gebrüder Wesnin, seit Beginn
der 30er Jahre zunehmend dazu übergingen, sowohl dem maschinen-
zentrierten Funktionalismus als auch dem historisch- und gegenwarts-
zentrierten Antifunktionalismus in ihren Projekten breiten Raum zu geben und auf
eigene Weise ideenreich miteinander zu verbinden. Der oben erwähnte, unter
Mitarbeit von Ginsburg entstandene Narkomtjashprom-Entwurf mit seinen
ornamentierten Triumphbogen-Glashochhäusern machte dies drastisch deutlich.
Die Ergebnisse dieser Synthetisierungsarbeit konnte die Palast-Architektur
übernehmen und in ihre Projekte einarbeiten, was es ihr ermöglichte, sich auch
Bruchstücke der mensch-zentrierten Variante des Funktionalismus phrasierend
einzuverleiben.
Fest verankert im herrschenden Stand der Bedeutungs-, Macht- und Selbst-
Techniken der organisierten Moderne und vierfach abgestützt in der »Poesie der
Zukunft« und der »Poesie der Vergangenheit«, war die „Empire"/„Zuckerbäcker"-
Architektur im Vergleich zum »Modernismus« und »Postmodernismus« in der Tat die
organisiertere Form, in der sich die Moderne gegen die „Leonidowerei" abschottete.
Dieser höhere Organisiertheitsgrad verlieh der Palast-Architektur nicht nur Stabilität,
sondern auch eine große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Veränderungen im
herrschenden Stand der Bedeutungs-, Macht- und Selbst-Techniken konnte sie
durch Balance-Verschiebungen zwischen Funktionalismus und Antifunktionalismus
zunächst grob und durch ein Austarieren ihrer jeweiligen Strömungen dann auch fein
ausgleichen.
Bereits viele Male tot gesagt, verlieh ihr diese hohe Adaptionsfähigkeit ihres
ding-, bedeutungs-, macht- und selbst-technischen Passungsprofils ein langes und
72