10.11.2012 Aufrufe

Bürger, die Geschichte schreiben - Stiftung Polytechnische ...

Bürger, die Geschichte schreiben - Stiftung Polytechnische ...

Bürger, die Geschichte schreiben - Stiftung Polytechnische ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

108 staDtteilHistoriker 2007 – 2010 | reNate HeBaUF, NorDeND<br />

reNate HeBaUF, NorDeND<br />

Gaußstraße 14 – ein „Ghettohaus“<br />

in Frankfurt am Main<br />

Die <strong>Geschichte</strong> eines Hauses und seiner jüdischen Bewohnerinnen<br />

und Bewohner zwischen 1912 und 1945<br />

als ich 1978 als studentin in das alte Haus im Frankfurter Nordend<br />

einzog, ahnte ich nichts von seiner bedrückenden <strong>Geschichte</strong>. erst<br />

ein paar jahre später entdeckte ich, mehr oder weniger durch Zufall,<br />

dass es zwischen 1941 und 1944 eines von rund 300 ‚Ghettohäusern’<br />

in Frankfurt gewesen war. Dort hatten <strong>die</strong> Nationalsozialisten jüdische<br />

<strong>Bürger</strong>, getrennt von der übrigen Bevölkerung, auf engstem<br />

raum zusammengepfercht, bevor sie sie in <strong>die</strong> konzentrations- und<br />

Vernichtungslager verschleppten. auf <strong>die</strong>ses dunkle kapitel der<br />

Frankfurter <strong>Geschichte</strong> stieß ich in einem Buch über den Frankfurter<br />

arbeiterwiderstand im Dritten reich, in dem <strong>die</strong> „Ghettohäuser in<br />

der Gaußstraße“ erwähnt wurden.<br />

in welcher Verbindung stand meine Wohnstraße, vielleicht sogar<br />

mein Wohnhaus zur nationalsozialistischen judenverfolgung? im<br />

Frankfurter stadtarchiv fand ich <strong>die</strong> schockierende antwort, als ich<br />

dort <strong>die</strong> listen der aus Frankfurt deportierten juden durchforstete.<br />

Hier waren nicht nur <strong>die</strong> Namen der Betroffenen und ihre Geburtsdaten<br />

verzeichnet, auch <strong>die</strong> adressen und sogar <strong>die</strong> stockwerke waren<br />

angegeben, wo man sie abgeholt hatte. Neben vielen adressen<br />

aus meiner Nachbarschaft stand hier auch meine eigene adresse –<br />

auf einer der listen sogar gleich 12 Mal.<br />

Wieder zu Hause, wollte sich <strong>die</strong> alltagsnormalität nicht mehr recht<br />

einstellen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass <strong>die</strong> Vorgeschichte<br />

von ‚auschwitz’ auch in meiner unmittelbaren Umgebung<br />

begonnen hatte. Die belastende Vergangenheit war mir buchstäblich<br />

auf den leib gerückt. ich wollte wissen, wer <strong>die</strong>se Menschen gewesen<br />

waren. Was war da, wo ich heute wohne, vorgefallen? Was war<br />

aus jedem und jeder einzelnen geworden? Hatte jemand überlebt?<br />

Fanny Joelson, geb. Berlin, 1986. Ehemailge Bewohnerin der Gaußstraße 14.<br />

(Foto: Hebauf)<br />

Diese Fragen wurden zum ansporn für meine spurensuche, <strong>die</strong><br />

sich über viele jahre hinziehen sollte. es war der Wunsch, <strong>die</strong> Menschen<br />

hinter der Namensliste mit meiner adresse wieder sichtbar zu<br />

machen, dort, wo sie gelebt hatten, in dem stadtviertel, das sie einmal<br />

mit geprägt hatten, an sie zu erinnern. ich wurde nicht nur in<br />

„Die Vergangenheit war mir fürchterlich nahe gekommen. Die Frage ließ mich nicht mehr los:<br />

Was war da, wo ich heute wohne, vorgefallen?“<br />

den archiven fündig, sondern hatte auch das Glück, eine ehe malige<br />

Bewohnerin zu treffen, <strong>die</strong> das Ghetto theresienstadt überlebt<br />

hatte und mir ihre erinnerungen über <strong>die</strong> jahre im ‚Ghettohaus’<br />

Gauß straße 14 schildern konnte.<br />

als ich 2007 im rahmen des „stadtteilHistoriker“-Projekts begann,<br />

ein Buchmanuskript über <strong>die</strong> Verfolgungsgeschichte der ehemaligen

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!