GESELLSCHAFTSVERTRAG
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83Der Verzicht auf die eigene Freiheit schließt den Verzicht auf Menschentum,<br />
Menschenrechte und -pflichten in sich. Für einen solchen Verzicht<br />
gibt es überhaupt keinen Ersatz; er verträgt sich nicht mit der Natur des<br />
Menschen. Nimmt man seinem Willen die Freiheit, so nimmt man seinem<br />
Handeln die sittliche Grundlage. Ein Übereinkommen, wonach dem einen unumschränkte<br />
Gewalt zusteht und dem andern unbegrenzter Gehorsam zukommt,<br />
ist ein Widerspruch in sich und deshalb nichtig. Gegenüber einem<br />
Menschen, von dem man berechtigt ist, alles zu fordern, ist man selbstverständlich<br />
zu nichts verpflichtet. Und diese eine Bedingung, die jede Entschädigung,<br />
jede Gegenleistung ausschließt, hat die Nichtigkeit des Aktes zur Folge.<br />
Denn welches Recht hat ein Sklave mir gegenüber, wenn mir alles gehört,<br />
was er hat, auch sein Recht? Ein Recht gegen mich, das mir selbst zusteht, ist<br />
sinnlos.<br />
Grotius und andere Schriftsteller mit ihm leiten das angebliche Recht<br />
der Sklaverei aus dem Kriege ab. Nach ihrer Ansicht hat der Sieger das<br />
Recht, den Besiegten zu töten, der sein Leben auf Kosten seiner Freiheit erkaufen<br />
kann. Dies Übereinkommen sei um so berechtigter, als beide Teile den<br />
Vorteil davon hätten.<br />
Aber dies angebliche Recht, den Besiegten zu töten, entspringt keineswegs<br />
dem Kriegszustande. Denn aus dem Umstande, daß Menschen in ursprünglicher<br />
Unabhängigkeit ihren Beziehungen noch nicht einen klaren<br />
friedlichen oder kriegerischen Charakter gegeben, folgt noch nicht, daß sie<br />
von Natur aus Feinde sind. Es sind die Verhältnisse und nicht die Menschen,<br />
die den Krieg begründen; der Kriegszustand kann sich nicht aus rein persönlichen,<br />
sondern nur aus sachlichen Verhältnissen heraus entwickeln. Den Privatkrieg<br />
von Mann zu Mann kann es weder im Naturzustande 1 geben, wo<br />
noch kein festes Eigentum besteht, noch innerhalb der staatlichen Ordnung,<br />
in der alle den Gesetzen unterworfen sind.<br />
Einzelkämpfe wie Duelle und Schlägereien sind keine Handlungen, die<br />
einen Zustand begründen. Die Fehden, die König Ludwig XI. 2 von Frankreich<br />
in seinen Verordnungen für zulässig erklärte und die später durch den Gottesfrieden<br />
beseitigt wurden, sind Auswüchse des sinnlosesten aller Systeme, des<br />
Lehnswesens, das den Grundsätzen des Naturrechts und der Idee einer politischen<br />
Ordnung widerspricht.<br />
Der Krieg bedeutet also keineswegs eine Beziehung von Mensch zu<br />
Mensch, sondern von Staat zu Staat. Die einzelnen stehen sich nur zufällig,<br />
nicht als Menschen, nicht einmal als Bürger, sondern nur als Soldaten feindlich<br />
gegenüber; nicht als Glieder eines Vaterlands, sondern als seine Verteidiger.<br />
Ein Staat kann daher nur Staaten zu Feinden haben und nicht Menschen,<br />
weil zwischen Dingen verschiedener Natur keine Beziehung denkbar ist.<br />
Dieser Grundsatz entspricht auch der seit den ältesten Zeiten anerkannten<br />
und geübten Praxis aller Kulturvölker. Die Kriegserklärungen sind weniger<br />
Warnungen an die Mächte als an die Untertanen. Der König, der Privatmann<br />
oder das Volk, die, ohne dem Staatsoberhaupt den Krieg zu erklären, im<br />
fremden Lande stehlen, töten oder Untertanen gefangen halten, sind keine<br />
Feinde, sondern Räuber. Selbst mitten im Kriege wird sich ein gerechter<br />
Fürst im feindlichen Gebiet des öffentlichen Eigentums bemächtigen, aber<br />
den einzelnen und sein Eigentum achten; er achtet Rechte, auf denen seine eigenen<br />
beruhen. Da das Ziel des Krieges die Vernichtung des feindlichen Staates<br />
ist, hat man wohl das Recht, seine Verteidiger zu töten, solange sie Waffen<br />
1 Im Original “l'ètat de nature“<br />
2 Ludwig XI. - genannt Ludwig XI. der Kluge, 1461 – 1483 König Frankreichs<br />
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