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GESELLSCHAFTSVERTRAG

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sich der einzelne Staatsbürger allen gegenüber und alle dem einzelnen gegenüber<br />

verpflichten können.<br />

Man sieht daraus, daß die Staatsgewalt, auch wenn sie unbeschränkt,<br />

heilig und unverletzlich ist, doch niemals die Grenzen der allgemeinen Vereinbarungen<br />

überschreitet noch überschreiten kann, und daß jeder Mensch über<br />

den ihm durch die Vereinbarung gelassenen Teil seines Eigentums und seiner<br />

Freiheit voll verfügen darf. Der Träger der Staatsgewalt hat infolgedessen<br />

niemals das Recht, einem Untertan größere Lasten als dem andern aufzubürden,<br />

weil es sich dann um eine Privatangelegenheit handelt, für die seine Gewalt<br />

nicht mehr zuständig ist.<br />

Sind diese Unterschiede einmal anerkannt, so ist es falsch, zu behaupten,<br />

daß im Gesellschaftsvertrag der einzelne irgendeinen wirklichen Verzicht<br />

zu leisten hat; im Gegenteil, seine Lage hat sich gegen früher tatsächlich gebessert.<br />

Statt etwas zu veräußern, hat er nur sein unsicheres und ungewisses<br />

Dasein gegen ein besseres und sicheres eingetauscht, seine natürliche Unabhängigkeit<br />

in Freiheit, seine Macht andern zu schaden gegen die eigene Sicherheit,<br />

und seine Stärke, die von andern überwunden werden konnte, in ein<br />

Recht, das der gesellschaftliche Zusammenschluß unüberwindbar macht.<br />

Selbst das Leben der einzelnen, das sie dem Staat zur Verfügung gestellt haben,<br />

wird ständig von ihm geschützt; und wenn sie es zu seiner Verteidigung<br />

aufs Spiel setzen, erstatten sie ihm nur wieder, was sie von ihm bekommen<br />

haben. Müßten sie es im Naturzustande nicht häufiger und mit größerem Risiko<br />

wagen, wenn sie in unvermeidlichen Kämpfen mit Gefahr ihres Lebens das<br />

verteidigen, was zu seiner Erhaltung dient? Im Notfall müssen allerdings alle<br />

für das Vaterland kämpfen; aber niemand braucht auch jemals für sich zu<br />

kämpfen. Gewinnen wir nicht sogar dabei, wenn wir zu unserer Sicherheit nur<br />

einen Teil der Gefahren tragen, die wir doch unseretwegen tragen müßten,<br />

wenn uns die Sicherheit genommen wäre?<br />

M<br />

FÜNFTES KAPITEL<br />

RECHT ÜBER LEBEN UND TOD<br />

an fragt sich, wie die einzelnen, die kein Verfügungsrecht über ihr eigenes<br />

Leben haben, dies Recht, das sie nicht besitzen, auf den Träger<br />

der Staatsgewalt übertragen können. Diese Frage scheint nur deswegen<br />

schwer lösbar, weil sie schlecht gestellt ist. Jeder Mensch hat das Recht, sein<br />

Leben zu wagen, um es zu erhalten. Niemals wird man einem Menschen<br />

Selbstmord vorwerfen, wenn er zum Fenster herausspringt, um einem Brand<br />

zu entgehen. Hat man jemals diesen Vorwurf gegen den erhoben, der bei ei-<br />

nem Sturm umkam, obwohl er die Gefahr kennen mußte, als er an Bord ging?<br />

Der Gesellschaftsvertrag bezweckt die Erhaltung der Vertragschließenden.<br />

Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen, und diese Mittel sind<br />

von einigen Gefahren, selbst von einigen Verlusten, nicht zu trennen. Wer<br />

sein Leben auf Kosten der andern erhalten will, muß es auch im Notfall für sie<br />

hingeben. Der Staatsbürger kann also nicht mehr über die Gefahr entscheiden,<br />

die er nach dem Willen des Gesetzes zu übernehmen hat; und wenn der<br />

Fürst 1 zu ihm sagt: Es ist für den Staat zweckmäßig, daß du stirbst, so muß<br />

er sterben. Denn nur unter dieser einen Bedingung hat er bisher in Sicherheit<br />

1 Im Original “prince“<br />

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