GESELLSCHAFTSVERTRAG
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ürger so wohlhabend sein, um einen andern kaufen zu können, und keiner so<br />
arm, um sich verkaufen zu müssen 1 . Das setzt bei den Großen Beschränkung<br />
des Eigentunis und des Einflusses voraus und bei den Kleinen Beschränkung<br />
der Habsucht und der Begehrlichkeit.<br />
Diese Gleichheit, sagen manche, ist ein theoretisches Phantasiegebilde,<br />
in der Praxis aber unmöglich. Aber wenn auch der Mißbrauch unvermeidlich<br />
ist, folgt daraus noch nicht, daß man ihn nicht beschränken soll. Gerade weil<br />
die Macht der Verhältnisse immer dazu neigt, die Gleichheit zu zerstören,<br />
muß die Macht der Gesetzgebung immer dazu neigen, sie zu erhalten.<br />
Diese allgemeinen Ziele jeder guten Verfassung müssen in jedem Land<br />
den Verhältnissen angepaßt werden, die sie aus der besonderen Lage, wie aus<br />
dem Charakter der Bewohner ergeben. Mit Rücksicht darauf muß man jedem<br />
Volk ein besonderes Verfassungssystem zuweisen, das vielleicht nicht an und<br />
für sich, aber für den Staat, dem es bestimmt ist, das beste ist. Ist z. B. der<br />
Boden unfruchtbar und unergiebig oder das Land den Bewohnern zu eng,<br />
werden Handwerk und Gewerbe ihre Erzeugnisse gegen die fehlenden Lebensmittel<br />
austauschen müssen. Besitzt ihr reiche Ebenen und fruchtbare<br />
Hänge, lebt ihr auf gutem Boden und fehlt es euch an Menschen, wendet eure<br />
ganze Arbeit der Landwirtschaft zu, die die Menschen vermehrt, und verjagt<br />
die Gewerbe, die das Land nur noch mehr entvölkern, denn sie drängen die<br />
wenigen Einwohner auf ein paar Punkte des Landes zusammen 2 . Besitzt ihr<br />
ausgedehnte und bequeme Küsten, so pflegt Handel und Schifffahrt, eure<br />
Existenz wird zwar kurz, aber glänzend sein. Bespült das Meer an euren Küsten<br />
fast unzugängliche Felsen, bleibt Fischer ohne Kultur; ihr werdet ruhiger<br />
leben, vielleicht bessere, auf jeden Fall glücklichere Menschen sein. Mit einem<br />
Wort, neben allgemeingültigen Grundsätzen trägt jedes Volk in sich den<br />
Anstoß zu einer Eigenart, der sich jede Gesetzgebung anpassen muß. So war<br />
früher für die Israeliten und später für die Araber das Hauptziel die Religion,<br />
für die Athener die Wissenschaft, für Karthago und Tyros der Handel, für Rhodus<br />
die Seefahrt, für Sparta der Krieg und für Rom die Mannheit. Der Verfasser<br />
des "Geistes der Gesetze 3 " hat an einer Unmenge von Beispielen gezeigt,<br />
mit welcher Kunst der Gesetzgeber die Verfassung auf jedes einzelne Ziel hinleitet.<br />
Will man dem Staat eine wirklich feste und dauerhafte Grundlage geben,<br />
so ist auf folgende Übereinstimmung zu achten: die Gesetze müssen so<br />
auf die natürlichen Verhältnisse abgestimmt sein, daß sie diese nur bestätigen,<br />
begleiten, berichtigen. Aber wenn der Gesetzgeber sich in seinem Ziel<br />
irrt und von einem Grundsatz ausgeht, der nicht den natürlichen Verhältnissen<br />
entspringt, stellen Grundsatz und Verhältnisse verschiedene Ziele gegenüber:<br />
wie Sklaverei und Freiheit, Reichtum und zahlreiche Bevölkerung, Friede<br />
und Eroberungen, dann wird die Kraft der Gesetze allmählich nachlassen,<br />
die Verfassung Schaden nehmen und der Staat unaufhörlich erschüttert werden,<br />
bis er zerstört oder geändert ist und die unüberwindliche Natur sich ihren<br />
Einfluß wieder erobert hat.<br />
1 Wollt ihr dem Staat also Festigkeit geben, so nähert die äußersten Grade so sehr wie möglich;<br />
duldet weder Reiche noch Bettler. Diese beiden von Natur unzertrennlichen Grade<br />
sind für das Gemeinwohl gleich nachteilig. Der eine bringt die Tyrannenmacher hervor,<br />
der andere die Tyrannen. Immer wird zwischen ihnen beiden die Freiheit des Staates verschachert;<br />
der eine kauft und der andere verkauft. [JJR]<br />
2 Mancher Zweig des Außenhandels, sagt der Marquis d'Argenson, gewährt einem Reich im<br />
allgemeinen kaum einen scheinbaren Nutzen; er kann einzelne, selbst einige Städte bereichern,<br />
aber die Nation gewinnt nichts dabei, und die Lage des Volkes wird nicht gebessert.<br />
[JJR]<br />
3 Montesquieu “Vom Geist der Gesetze“ erschien 1748<br />
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