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GESELLSCHAFTSVERTRAG

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Man verteilte also an die Staatsbürger Täfelchen, mit denen jeder abstimmte,<br />

ohne daß man seine Meinung erfuhr. Man wandte auch ein neues<br />

Verfahren beim Einsammeln der Täfelchen und beim Zählen der Stimmen und<br />

dem Vergleich der Zahlen usw. an. Das hinderte nicht, daß die Vertrauenswürdigkeit<br />

der damit betrauten Beamten oft verdächtigt wurde. Man erließ<br />

endlich, um Intrigen und Stimmenkauf zu hindern, Verordnungen, deren<br />

große Zahl ihre Zwecklosigkeit beweist.<br />

In den letzten Zeiten war man oft gezwungen, zu außerordentlichen<br />

Mitteln seine Zuflucht zu nehmen, um unzulängliche Gesetze zu ergänzen.<br />

Man erfand zum Beispiel Wunder. Aber dieses Mittel, das dem Volk imponieren<br />

konnte, verfing nicht bei den Regierenden. Bald berief man eine Versammlung<br />

aus dem Stegreif, bevor die Kandidaten Zeit zu Wühlereien hatten,<br />

bald brachte man eine ganze Sitzung mit Reden hin, wenn man sah, daß das<br />

Volk unter irgendeinem Einfluß eine üble Entscheidung treffen wollte. Aber<br />

der Ehrgeiz wußte schließlich alles zu umgehen; es ist unglaublich, daß trotz<br />

so vieler Mißbräuche diese ungeheure Bevölkerung unter dem günstigen Einfluß<br />

seiner alten Ordnung die Beamten wählte, Gesetze abstimmte, Prozesse<br />

entschied und private und öffentliche Fragen fast mit derselben Leichtigkeit<br />

wie der Senat erledigte.<br />

W<br />

FÜNFTES KAPITEL<br />

DAS TRIBUNAT<br />

enn man kein genaues Verhältnis zwischen den verfassungsmäßigen<br />

Teilen des Staates festsetzen kann oder wenn unabwendbare Ursachen<br />

unaufhörlich die Beziehungen stören, dann errichtet man ein besonderes Amt,<br />

das mit den anderen nicht zusammenhängt, das jeden Teil in das richtige Verhältnis<br />

bringt und eine Verbindung oder ein Mittelglied zwischen Fürsten und<br />

Volk oder zwischen Fürsten und Träger der Staatsgewalt schafft oder zwischen<br />

beiden, wenn es nötig ist. Dieses Amt, das ich Tribunat nennen will, hat<br />

die Gesetze und die gesetzgebende Gewalt zu wahren. Es dient manchmal<br />

dazu, den Träger der Staatsgewalt gegen die Regierung zu schützen, wie es<br />

die Volkstribune in Rom taten; manchmal, die Regierung gegen das Volk zu<br />

schützen, wie es jetzt in Venedig die Aufgabe des Rates der Zehn ist; und<br />

manchmal, das Gleichgewicht zwischen beiden zu wahren, was die Ephoren 1<br />

in Sparta geleistet haben.<br />

Das Tribunat ist keineswegs ein verfassungsmäßiger Teil der Stadtrepublik<br />

und darf keinen Anteil an der gesetzgebenden oder ausübenden Gewalt<br />

haben; aber gerade deswegen ist seine Gewalt um so größer, denn ohne<br />

selbst aktiv zu sein, kann es alles hindern. Es ist als Verteidiger der Gesetze<br />

geheiligter und geachteter als der Fürst, der sie ausführt, und als der Träger<br />

der Staatsgewalt, der sie gibt. Das kann man klar an Rom sehen; die stolzen<br />

Patrizier, die immer das ganze Volk verachteten, waren gezwungen, sich einem<br />

einfachen Beamten des Volkes zu beugen, der weder priesterliche noch<br />

richterliche Gewalt hatte.<br />

Das klug gemilderte Tribunat ist die festeste Stütze einer guten Verfassung.<br />

Hat es aber nur etwas zu viel Macht, so stört es das ganze Gleichge-<br />

1 Ephoren - [griechisch »Aufseher«], in Sparta die alle fünf Jahre gewählten höchsten Beamten,<br />

die das Ephorat (überwachte die königlichen Machtbefugnisse, das Gerichts-, Erziehungs-,<br />

Behördenwesen) bildeten.<br />

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