GESELLSCHAFTSVERTRAG
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größten Einfluß bekommen. Schon die leichtere Regelung des Geschäftsganges<br />
verhilft ihnen dazu.<br />
Die demokratische Regierungsform setzt außerdem viele schwervereinbare<br />
Dinge voraus. Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zu<br />
versammeln ist und jeder Staatsbürger bequem die anderen kennenlernen<br />
kann. Zweitens eine einfache Lebensweise, bei der ein umfangreicher Geschäftsgang<br />
und schwierige Verhandlungen vermieden werden. Ferner eine<br />
weitgehende Gleichheit der Stände und Vermögen, ohne die keine Gleichheit<br />
der Rechte und des Einflusses lange bestehen kann. Schließlich geringen oder<br />
gar keinen Luxus, denn der Luxus ist die Wirkung des Reichtums oder macht<br />
ihn unentbehrlich; er verdirbt unterschiedslos arm und reich, den einen durch<br />
Besitz, den anderen durch Begehrlichkeit; er opfert das Vaterland der Üppigkeit<br />
und Eitelkeit; er entzieht dem Staate alle Bürger, macht die einen zu<br />
Sklaven der andern und alle zu Sklaven des Vorurteils.<br />
Deshalb hat ein berühmter Schriftsteller die Tugend als Grundlage der<br />
Republik aufgestellt, denn alle erwähnten Bedingungen könnten ohne die Tugend<br />
nicht bestehen. Aber weil er nicht die notwendigen Unterscheidungen<br />
machte, hat dieser große Geist es oft an Genauigkeit und manchmal an Klarheit<br />
fehlen lassen. Er hat nicht erkannt, daß die Staatsgewalt überall dieselbe<br />
ist und daher in jedem wohlorganisierten Staat dasselbe Prinzip gelten muß,<br />
allerdings in höherem oder geringerem Maße, je nach der Regierungsform.<br />
Dazu kommt, daß keine Regierungsform Bürgerkriegen und inneren Gärungen<br />
so ausgesetzt ist wie gerade die demokratische oder Volksregierung,<br />
weil keine andere so stark und dauernd zu Umwälzungen neigt und mehr Umsicht<br />
und Mut zu ihrer Erhaltung verlangt. Gerade bei dieser Staatsform muß<br />
sich jeder Staatsbürger mit Kraft und Ausdauer wappnen und jeden Tag seines<br />
Lebens gewissenhaft wiederholen, was ein edler Woiwode im polnischen<br />
Reichstag zu sagen pflegte: "Lieber Freiheit und Gefahr als Sklaverei und ungestörte<br />
Ruhe."<br />
Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren.<br />
Eine so vollkommene Regierungsform eignet sich nicht für Menschen.<br />
W<br />
FÜNFTES KAPITEL<br />
DIE ARISTOKRATIE<br />
ir haben es hier mit zwei ganz verschiedenen geistigen Personen zu<br />
tun: der Regierung und dem Träger der Staatsgewalt. Es gibt hier folglich<br />
zwei Gemeinwillen, der eine bezieht sich auf alle Staatsbürger, der andere<br />
nur auf die Mitglieder der Regierung. Obwohl die Regierung ihre innere<br />
Verfassung nach ihrem Belieben regeln kann, darf sie doch zum Volke nur im<br />
Namen des Trägers der Staatsgewalt sprechen, d. h. im Namen des Volkes<br />
selbst; das darf man nie vergessen.<br />
Die ersten gesellschaftlichen Gebilde regierten sich aristokratisch. Die<br />
Häupter der Familien berieten untereinander über die Angelegenheiten des<br />
Gemeinwesens. Die jungen Leute fügten sich ohne Widerstreben dem Ansehen<br />
der Erfahrung. Daher die Namen Priester, Älteste, Senat, Geronten. Die<br />
nordamerikanischen Wilden werden noch heute so regiert und sehr gut regiert.<br />
Aber je mehr die verfassungsmäßige Ungleichheit die natürliche Ungleichheit<br />
überwog, wurden Reichtum und Macht dem Alter vorgezogen, und<br />
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