GESELLSCHAFTSVERTRAG
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S<br />
VIERTES BUCH<br />
ERSTES KAPITEL<br />
DER GEMEINWILLE IST UNZERSTÖRBAR<br />
olange sich mehrere vereinigte Menschen als einen einzigen Körper betrachten,<br />
haben sie nur einen einzigen Willen, der die gemeinsame Erhaltung<br />
und das allgemeine Wohl bezweckt. Dann sind alle Mittel des Staates<br />
wirksam und einfach, seine Grundsätze klar und einleuchtend; es gibt keine<br />
verwickelten, sich widersprechenden Interessen; das Gemeinwohl tritt überall<br />
klar hervor und verlangt nur gesunden Menschenverstand, um wahrgenommen<br />
zu werden. Friede, Einheit, Gleichheit 1 lassen keine politischen Spitzfindigkeiten<br />
zu. Gerade und einfache Menschen sind wegen ihrer Einfachheit<br />
schwer zu täuschen; auf Lockungen und schlaue Vorwände fallen sie nicht<br />
herein, sie sind nicht einmal durchtrieben genug, sich überlisten zu lassen.<br />
Wenn man sieht, wie bei dem glücklichsten Volke der Welt Scharen von Bauern<br />
unter einer Eiche ihre Staatsangelegenheiten entscheiden und klug entscheiden,<br />
muß man da nicht die komplizierte Staatsmaschine der andern Nationen<br />
verachten, die sich mit so geheimnisvoller Kunst berühmt und elend<br />
machen ?<br />
Ein so regierter Staat hat sehr wenig Gesetze nötig, und sobald neue zu<br />
verkünden sind, drängt sich ihre Notwendigkeit allen Staatsbürgern auf. Der<br />
erste, der sie beantragt, spricht nur aus, was alle schon gedacht haben, und<br />
weder Parteien noch Rednergabe sind nötig, um ein Gesetz durchzubringen,<br />
zu dem jeder schon entschlossen ist, sobald er sicher ist, daß es die andern<br />
auch sind.<br />
Die Klugschwätzer lassen sich dadurch täuschen, daß sie nur Staaten<br />
sehen, die von Anfang an eine schlechte Verfassung hatten. Sie glauben nicht<br />
an die Möglichkeit, eine solche Ordnung beizubehalten. Sie lachen bei dem<br />
Gedanken an alle die Dummheiten, die ein geschickter Schurke, ein einschmeichelnder<br />
Redner dem Volk von Paris oder London aufschwatzen könnte.<br />
Sie wissen nicht, daß Cromwell 2 von der Berner Bevölkerung ins Irrenhaus<br />
gesteckt und der Herzog von Beaufort 3 von den Genfern öffentlich<br />
ausgepeitscht wäre.<br />
Aber wenn das staatliche Band sich zu lockern und der Staat sich aufzulösen<br />
beginnt, wenn die Sonderinteressen sich fühlbarer machen und die kleinen<br />
Gemeinschaften die große beeinflussen, dann leidet das Gemeininteresse<br />
und findet Gegner. Bei der Abstimmung herrscht keine Einstimmigkeit mehr,<br />
der Gemeinwille ist nicht mehr der Wille aller, es erheben sich Widersprüche<br />
und Debatten, und selbst die beste Ansicht geht erst nach langer Diskussion<br />
durch.<br />
Wenn schließlich der Staat, seinem Untergange nahe, nur noch in einer<br />
leeren und trügerischen Form besteht und das Band der Gemeinschaft in allen<br />
Herzen zerrissen ist, wenn das [all]gemeinste Interesse schamlos den geheiligten<br />
Namen des Gemeinwohls im Munde führt, dann verstummt der Gemeinwille.<br />
Alle lassen sich von heimlichen Beweggründen leiten und geben<br />
1 Ein Vorgriff auf das Motto der Revolution “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“<br />
2 Cromwell - Oliver Cromwell, Politiker und Feldherr des Parlaments im englischen Bürgerkrieg,<br />
Begründer der englischen Republik (Hinrichtung des Königs Karl I. 1649), † 1658<br />
3 Beaufort – engl. Adelsgeschlecht, im 14. und 15. Jahrh. einflußreich<br />
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