GESELLSCHAFTSVERTRAG
GESELLSCHAFTSVERTRAG
GESELLSCHAFTSVERTRAG
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
durchzubringen, die das Volk bei vernünftiger Überlegung niemals angenommen<br />
hätte. Die Wahl des richtigen Augenblicks für eine Verfassung ist eins<br />
der sichersten Kennzeichen, um das Werk eines Gesetzgebers von dem eines<br />
Gewaltherrschers zu unterscheiden.<br />
Ein Volk ist also reif für eine Rechtsordnung, wenn es schon durch Ursprung,<br />
Interessen oder Vereinbarungen geeint ist, aber das wahre Joch der<br />
Gesetze noch nicht getragen hat; wenn bei ihm weder Sitten noch Aberglaube<br />
fest eingewurzelt sind, wenn es nicht zu fürchten braucht, von einem plötzlichen<br />
Überfall erdrückt zu werden, wenn es, ohne mit in die Schwierigkeiten<br />
seiner Nachbarn hineingezogen zu werden, für sich allein jedem von ihnen<br />
Widerstand leisten kann oder den einen benutzen kann, um den andern zurückzuwerfen;<br />
wenn jedes seiner Glieder von allen gekannt sein kann, und<br />
wenn man nicht gezwungen ist, einem Menschen eine größere Last aufzubürden,<br />
als er tragen kann; wenn es andere Völker entbehren und jedes andere<br />
Volk es entbehren kann 1 ; wenn es weder arm noch reich ist und sich selbst<br />
genügen kann, wenn es schließlich die Festigkeit eines alten Volkes mit der<br />
Empfänglichkeit eines jungen vereinigt. Was das Werk der Gesetzgebung<br />
schwierig macht, ist weniger der Aufbau als das Aufräumen; und was den Erfolg<br />
so selten macht, das ist die Unmöglichkeit, die Einfachheit der Natur mit<br />
den Bedürfnissen einer organisierten Gesellschaft zu vereinigen. Alle diese<br />
Bedingungen sind allerdings schwerlich beieinander zu finden; deshalb sieht<br />
man auch so wenig Staaten mit guten Verfassungen.<br />
Es gibt in Europa ein Land, das für eine Gesetzgebung noch geeignet<br />
ist. Die Insel Korsika. Der Mut und die Ausdauer, mit der dieses tapfere Volk<br />
seine Freiheit wiedergewann 2 und verteidigte, verdiente wohl, daß ein kluger<br />
Mann es lehrte, seine Freiheit zu bewahren. Ich habe eine Ahnung, als wenn<br />
diese Insel Europa eines Tages in Erstaunen setzen wird.<br />
W<br />
ELFTES KAPITEL<br />
DIE VERSCHIEDENEN SYSTEME DER<br />
GESETZGEBUNG<br />
orin besteht eigentlich das größte Gut, dem jedes System einer Gesetzgebung<br />
zustreben muß? Es läßt sich auf die beiden Hauptziele Freiheit<br />
und Gleichheit zurückführen. Freiheit: denn jede Abhängigkeit eines einzelnen<br />
bedeutet eine dem Staatskörper entzogene Kraft; Gleichheit, denn Freiheit<br />
kann ohne sie nicht bestehen. Ich habe schon gesagt, was staatsbürgerliche<br />
Freiheit ist. Das Wort Gleichheit ist nicht so zu verstehen, daß das Maß<br />
an Macht und Reichtum vollkommen das gleiche sein muß; sondern daß die<br />
Macht sich jeder Gewalttätigkeit enthält und nur entsprechend ihrer Stellung<br />
und den Gesetzen ausgeübt wird. Bezüglich des Reichtums darf kein Staats-<br />
1 Wenn von zwei Nachbarvölkern das eine das andere nicht entbehren kann, so wäre die<br />
Lage für das eine Volk sehr drückend, für das andere sehr gefährlich. Jede kluge Nation<br />
wird sich in solchem Fall schleunigst bemühen, das andere aus dieser Abhängigkeit zu lösen.<br />
Die Republik Tlascala, mitten im mexikanischen Reich, wollte lieber auf Salz verzichten,<br />
als es von den Mexikanern kaufen oder umsonst annehmen. Die klugen Tlascalaner<br />
sahen die Falle, die unter dieser Freigiebigkeit verborgen war. Sie bewahrten ihre Freiheit;<br />
und dieser kleine, von dem großen Reich umgebene Staat wurde endlich die Ursache<br />
zum Sturze Mexikos. [JJR]<br />
2 Abschütteln der Herrschaft Genuas und Unabhängigkeit 1755<br />
35