GESELLSCHAFTSVERTRAG
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Nicht die Gesetze geben dem Staat Bestand, sondern die gesetzgebende<br />
Gewalt, Ein Gesetz von gestern verpflichtet heute nicht mehr; aber Stillschweigen<br />
gilt für Zustimmung, und der Träger der Staatsgewalt bestätigt immer<br />
von neuem die Gesetze, die er nicht abschafft, obwohl es in seiner Macht<br />
liegt. Alle seine Willenserklärungen haben weiter Geltung, bis sie widerrufen<br />
werden.<br />
Die alten Gesetze werden also mit Ehrfurcht behandelt, weil sie so alt<br />
sind. Man muß annehmen, daß die Güte der ehemaligen Willensäußerungen<br />
ihnen zu ihrem langen Leben verholfen hat. Der Träger der Staatsgewalt hätte<br />
sie tausendmal widerrufen, wenn er sie nicht anerkannt hätte. Statt schwächer<br />
zu werden, gewinnen also die Gesetze in einem gut organisierten Staat<br />
immer neue Kraft. Für das Althergebrachte besteht immer Voreingenommenheit,<br />
und so wird es täglich ehrwürdiger. Überall dagegen, wo die Gesetze mit<br />
ihrem Alter an Kraft verlieren, gibt es keine gesetzgebende Macht, und der<br />
Staat hat kein Leben mehr.<br />
ZWÖLFTES KAPITEL<br />
WIE DIE STAATSGEWALT SICH BEHAUPTEN KANN<br />
D<br />
er Träger der Staatsgewalt hat nur die gesetzgebende Gewalt und wirkt<br />
nur durch Gesetze. Da die Gesetze nur in echten Akten des Gemeinwillens<br />
bestehen, kann der Träger der Staatsgewalt nur wirken, wenn das Volk<br />
versammelt ist. Das Volk versammelt! wird man sagen, so eine phantastische<br />
Idee! Heute ist das allerdings eine phantastische Idee, aber nicht vor zweitau-<br />
send Jahren. Haben sich die Menschen inzwischen geändert?<br />
In der geistigen Welt sind die Grenzen des Möglichen weniger eng, als<br />
wir glauben; sie werden nur durch unsere Schwächen, unsere Laster und Vorurteile<br />
enger gezogen. Gemeine Seelen glauben nicht an große Männer, Sklavennaturen<br />
lächeln spöttisch bei dem Worte Freiheit.<br />
Aus dem Geschehenen wollen wir auf das Mögliche schließen. Ich will<br />
nicht von den alten griechischen Stadtrepubliken sprechen; aber die römische<br />
Republik war doch ein großer Staat und die Stadt Rom eine große Stadt. Die<br />
letzte Volkszählung ergab in Rom vierhunderttausend waffenfähige Bürger<br />
und im Reich mehr als vier Millionen, wobei die Nichtbürger, die Fremden,<br />
die Frauen, Kinder und Sklaven nicht mitgerechnet wurden.<br />
Die Schwierigkeit, die ungeheure Bevölkerung dieser Hauptstadt und<br />
ihrer Umgebung häufig zu versammeln, kann man sich gar nicht vorstellen.<br />
Trotzdem verging selten eine Woche, ohne daß das römische Volk sich nicht<br />
wenigstens einmal versammelte. Es übte neben den Rechten der Staatsgewalt<br />
auch teilweise Rechte der Regierung aus. Es verhandelte über bestimmte Angelegenheiten,<br />
fällte ein Urteil in bestimmten Prozessen, und das ganze Volk<br />
war auf dem Marktplatz fast ebenso häufig Behörde wie Staatsbürger.<br />
Wenn man auf die ältesten Zeiten der Völker zurückgeht, wird man finden,<br />
daß die meisten alten Regierungen, selbst die monarchischen der Mazedonier<br />
und Franken, auch ähnliche Volksversammlungen hatten. Auf alle Fälle<br />
widerlegt diese eine unbestreitbare Tatsache alle Schwierigkeiten: der Schluß<br />
von der Wirklichkeit auf das Mögliche scheint mir durchaus zulässig.<br />
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