GESELLSCHAFTSVERTRAG
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minderte Ganze ist nicht das Ganze, und so lange dieses Verhältnis besteht,<br />
gibt es kein Ganzes, sondern zwei ungleiche Teile. Daraus folgt, daß der Wille<br />
des einen Teils im Verhältnis zum andern kein Gemeinwille sein kann.<br />
Sobald aber das ganze Volk über das ganze Volk entscheidet, bedenkt<br />
es bloß sich selbst; und dann bildet sich ein Verhältnis zwischen dem ganzen<br />
Gegenstand einerseits zu dem ganzen Gegenstand andererseits, ohne irgendeine<br />
Teilung des Ganzen. Dann ist der Gegenstand, über den man entscheidet,<br />
genau so allgemein wie der Wille. Diesen Akt nenne ich ein Gesetz.<br />
Wenn ich sage, daß der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, so<br />
meine ich, daß das Gesetz die Untertanen als Körperschaft berücksichtigt und<br />
die Handlungen an sich, niemals einen Menschen als Individuum oder eine<br />
besondere Handlung. So kann das Gesetz wohl entscheiden, daß es Vorrechte<br />
geben soll, aber es kann sie niemandem namentlich zuweisen; das Gesetz<br />
kann mehrere Klassen von Staatsbürgern schaffen, selbst die Eigenschaften<br />
festlegen, die einen Anspruch auf diese Klassen geben, aber nicht die Aufnahme<br />
der einzelnen Mitglieder verfügen. Es kann die monarchische Regierungsform<br />
und die erbliche Thronfolge festsetzen, aber nicht den König wählen,<br />
noch eine königliche Familie ernennen. Mit einem Wort: jede Tätigkeit, die<br />
sich auf einen persönlichen Gegenstand bezieht, steht nicht der gesetzgebenden<br />
Gewalt zu.<br />
Wenn der Begriff so festgelegt ist, sieht man sofort, daß man nicht mehr<br />
fragen darf, wem die Gesetzgebung zusteht, da die Gesetze Akte des Gemeinwillens<br />
sind; noch ob der Fürst über den Gesetzen steht, da er ein Mitglied<br />
des Staates ist; noch ob das Gesetz ungerecht sein kann, da niemand gegen<br />
sich selbst ungerecht sein kann; noch wie man frei und doch den Gesetzen unterworfen<br />
sein kann, da in ihnen nur unsere Willensäußerungen aufgezeichnet<br />
sind.<br />
Man sieht ferner, daß, da das Gesetz die Allgemeinheit des Willens mit<br />
dem des Gegenstandes in sich vereinigt, der willkürliche Befehl eines einzelnen,<br />
wer es auch sei, kein Gesetz ist. Selbst was der Träger der Staatsgewalt<br />
über einen besonderen Gegenstand vorschreibt, ist kein Gesetz, sondern eine<br />
Verordnung, kein Akt der Staatsgewalt, sondern der Regierung.<br />
Ich nenne demgemäß Republik einen jeden Staat, der nach Gesetzen regiert<br />
wird, ganz unabhängig von der Form der Regierung. Denn nur in diesem<br />
Falle ist das Staatsinteresse maßgebend, und hat der Staat eine Bedeutung.<br />
Jede rechtmäßige Regierung ist republikanisch 1 ; den Ausdruck Regierung<br />
werde ich noch erklären.<br />
Die Gesetze sind eigentlich nur die Bedingungen der staatlichen Gemeinschaftsbildung.<br />
Das Volk, das den Gesetzen zu gehorchen hat, muß sie<br />
auch gegeben haben; nur denen, die sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen,<br />
steht es zu, die Bedingungen der Gesellschaft zu regeln. Aber<br />
wie sollen sie das tun? Etwa in gemeinschaftlicher Übereinstimmung, durch<br />
plötzliche Eingebung? Hat der Staatskörper ein Organ, um seinen Willen zu<br />
äußern? Wer soll ihm die nötige Umsicht geben, um seine Handlungen im voraus<br />
zu formulieren und bekanntzugeben? Oder wie kann er sie im Augenblick<br />
der Not äußern? Wie soll eine blinde Masse, die oft nicht weiß, was sie will,<br />
weil sie selten weiß, was ihr gut tut, von sich aus an ein so bedeutendes und<br />
schwieriges Unternehmen wie ein System der Gesetzgebung herangehen?<br />
1 Ich verstehe darunter nicht nur eine Aristokratie oder eine Demokratie, sondern ganz allgemein<br />
jede Regierung, die vom Gemeinwillen als Gesetz geleitet wird. Um rechtmäßig zu<br />
sein, braucht die Regierung mit dem Träger der Staatsgewalt nicht identisch zu sein, aber<br />
sie muß sein Werkzeug sein. In diesem Fall ist auch die Monarchie eine Republik. Im folgenden<br />
Buch wird dies näher erläutert werden. [JJR]<br />
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