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GESELLSCHAFTSVERTRAG

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fragt man genau genommen die Versammelten nicht, ob sie den Antrag billigen<br />

oder zurückweisen, sondern ob er dem Gemeinwillen entspricht, der der<br />

Wille der Versammlung ist. Jeder, der seine Stimme abgibt, sagt darüber seine<br />

Ansicht, und aus der Zählung der Stimmen ergibt sich die Erklärung des<br />

Gemeinwillens. Wenn also die Gegenansicht durchdringt, so beweist das nur,<br />

daß ich mich geirrt habe und daß ich als allgemeinen Willen etwas Falsches<br />

angesehen habe. Wenn meine besondere Ansicht durchgedrungen wäre, hätte<br />

ich etwas anderes gemacht, als ich wollte; dann wäre ich nicht frei gewesen.<br />

Das setzt allerdings voraus, daß das Wesen des Gemeinwillens in der<br />

Mehrheit besteht; wenn das nicht mehr der Fall ist, so gibt es keine Freiheit,<br />

welchen Beschluß man auch faßt.<br />

Ich habe vorhin gezeigt, wie man einen Sonderwillen dem Gemeinwillen<br />

in den öffentlichen Versammlungen unterstellte. Ich habe auch genügend<br />

praktische Mittel angegeben, um diesem Mißstand abzuhelfen; davon werde<br />

ich noch weiter unten sprechen. Ich habe ferner die Grundsätze angegeben,<br />

nach denen man das für die Willenserklärung erforderliche Stimmenverhältnis<br />

festsetzen kann. Der Unterschied einer einzigen Stimme zerstört die<br />

Gleichheit; ein einziger Gegner zerstört die Einstimmigkeit. Aber zwischen<br />

Einstimmigkeit und Stimmengleichheit gibt es verschiedene Fälle von Stimmenmehrheit,<br />

die sich zahlenmäßig nur nach der Lage und den Bedürfnissen<br />

des Staatskörpers festlegen lassen.<br />

Zwei allgemeine Grundsätze für diese Beziehungen dienen als Regel: je<br />

wichtiger und schwerwiegender die Beratungen sind, um so mehr muß die<br />

überwiegende Ansicht sich der Einstimmigkeit nähern; je dringender eine eilige<br />

Sache ist, um so mehr muß die zur Mehrheit erforderliche Stimmenzahl<br />

verringert werden; ist die Entscheidung sofort zu treffen, muß eine Stimme<br />

Mehrheit genügen. Der erste Grundsatz wird sich mehr für Gesetze eignen,<br />

der zweite mehr für laufende Angelegenheiten. Auf jeden Fall gewährt ihre<br />

Verbindung das beste Verhältnis, das sich für die entscheidende Stimmenmehrheit<br />

festlegen läßt.<br />

D<br />

DRITTES KAPITEL<br />

DIE WAHLEN<br />

ie Wahl des Fürsten oder der Mitglieder der Regierung ist, wie gesagt,<br />

eine zusammengesetzte Handlung; sie kann durch Abstimmung oder Los<br />

geschehen. Beide Verfahren sind in verschiedenen Republiken angewandt<br />

worden; noch heute sind sie bei der Wahl des Dogen von Venedig in sehr ver-<br />

wickelter Weise miteinander verquickt.<br />

"Die Wahl durch das Los", sagt Montesquieu, "eignet sich für die Demokratie."<br />

Das gebe ich zu, aber in welcher Weise? "Das Los", fährt er fort, "ist<br />

eine Art der Wahl, die niemand verletzt; sie läßt jedem Staatsbürger eine vernünftige<br />

Hoffnung, dem Vaterlande zu dienen." Das ist aber keine Begründung.<br />

Wenn man darauf achtet, daß die Wahl der Oberhäupter eine Tätigkeit<br />

der Regierung und nicht der Staatsgewalt ist, so wird man erkennen, warum<br />

die Wahl durch das Los sich mehr für die Demokratie eignet, wo die Regierung<br />

um so besser ist, je weniger Handlungen sie vorzunehmen hat.<br />

In jeder wahren Demokratie ist die Teilnahme an der Regierung kein<br />

Vorteil, sondern eine drückende Last, die man nicht einem eher aufbürden<br />

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