GESELLSCHAFTSVERTRAG
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Merkmal, daß sie ihren Zweck erfüllt, ist die Zunahme der Bevölkerung. Man<br />
braucht das umstrittene Merkmal nirgends wo anders zu suchen. Unter sonst<br />
gleichen Verhältnissen ist die Regierung unfehlbar die beste, unter der ohne<br />
unnatürliche Mittel, ohne Naturalisation 1 , ohne Kolonien, die Zahl der Staatsbürger<br />
dauernd steigt. Die schlechteste, wenn ein Volk unter ihr sich vermindert<br />
und abstirbt. Jetzt haben die Rechenkünstler etwas zu tun; sie können<br />
zählen, messen, vergleichen 2 .<br />
W<br />
ZEHNTES KAPITEL<br />
DER MISSBRAUCH DER REGIERUNGSGEWALT<br />
UND IHRE NEIGUNG ZUR ENTARTUNG<br />
ie der Wille des einzelnen unaufhörlich dem Gemeinwillen entgegenstrebt,<br />
so wirkt auch die Regierung dauernd der Staatsgewalt entgegen.<br />
Je heftiger der Druck wird, um so mehr leidet die Verfassung. Da es keinen<br />
anderen kollegialen Willen gibt, der dem Fürsten Widerstand bieten und<br />
ihm das Gleichgewicht halten könnte, muß der Fürst früher oder später den<br />
Träger der Staatsgewalt unterdrücken und den Gesellschaftsvertrag brechen.<br />
Das ist der unvermeidliche Fehler, der dem Staatskörper seit seiner Entstehung<br />
anhaftet, unablässig auf seine Zerstörung hinarbeitet, ebenso wie<br />
Krankheit und Tod schließlich den menschlichen Körper zerstören.<br />
Es gibt zwei Hauptwege, auf denen eine Regierung zur Entartung gelangt:<br />
ihre Einschränkung oder die Auflösung des Staates.<br />
Eine Regierung wird eingeschränkt, wenn ihre anfänglich große Mitgliederzahl<br />
sinkt, d. h. bei dem Übergang von der Demokratie zur Aristokratie,<br />
1 Naturalisation – Einbürgerung eines Ausländers<br />
2 Nach demselben Grundsatz muß man auch die Zeiten beurteilen, die ein besonderes Verdienst<br />
um die Wohlfahrt der Menschheit haben. Die Zeiten, in denen Kunst und Wissenschaften<br />
geblüht haben, sind zu stark bewundert worden; man ist nicht hinter den<br />
verborgenen Antrieb ihrer Kultur gekommen und hat ihre verhängnisvolle Wirkung übersehen:<br />
"Idque apud imperitos humanitas vocabatur, quum pars servitutis esset«' (Bei den Unerfahrenen<br />
hieß es Bildung, und war doch nur ein Stück Sklaverei). Werden wir in den<br />
Lehrsätzen der Bücher nie die unlauteren Absichten der Verfasser erkennen? Sie mögen<br />
sagen, was sie wollen, wenn ein Land sich entvölkert, so ist es trotz scheinbarer Blüte<br />
nicht wahr, daß alles gut geht. Es genügt nicht, daß ein Dichter jährlich hunderttausend<br />
Franken bezieht, um sein Jahrhundert als das allererste hinzustellen. Nicht auf die scheinbare<br />
Ruhe und Zufriedenheit der Machthaber kommt es an, sondern auf die Wohlfahrt des<br />
ganzen Volkes und besonders der zahlreichsten Stände. Der Hagel verwüstet wohl einzelne<br />
Gegenden, aber selten bewirkt er Hungersnot. Aufruhr und Bürgerkrieg setzen die<br />
Machthaber in großen Schrecken, aber sie bilden nicht das eigentliche Elend der Völker,<br />
die bei dem Streit darüber, wer sie beherrschen soll, sogar Erholung finden können. Von<br />
der Stetigkeit ihrer Lage hängt ihr wahres Glück oder Unglück ab. Wenn alles vom Zwang<br />
erdrückt wird, geht alles zugrunde; dann vernichten die Machthaber nach Belieben, und<br />
"ubi solitudinem faciunt, pacem appellaut" (Die Kirchhofsruhe nennen sie Frieden). Als die<br />
Zwistigkeiten der Großen Frankreich beunruhigten und der Gehilfe des Bischofs von Paris<br />
mit einem Dolch in der Tasche ins Parlament ging, lebte das französische Volk trotzdem<br />
glücklich und zahlreich in anständiger und freier Wohlhabenheit. Die Blüte Griechenlands<br />
fiel in die Zeit grausamer Kriege; das Blut floß in Strömen, und doch war das Land dicht<br />
bevölkert. "Unsere Republik", sagt Machiavelli, "schien inmitten von Morden, Ächtungen<br />
und Bürgerkriegen immer machtvoller zu werden; die Tugend ihrer Bürger, ihre Gesinnung,<br />
ihre Unabhängigkeit stärkten sie mehr, als die Zwistigkeiten sie schwächen konnten.<br />
Eine gewisse Erregung gibt dem Geist Spannkraft, und was der Menschheit wirklich wohltut,<br />
ist weniger der Friede als die Freiheit.“ [JJR]<br />
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