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GESELLSCHAFTSVERTRAG

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hatte sehr vernünftige Absichten, er gab seinen politischen Ideen durch die<br />

Verknüpfung mit der Religion einen festen Halt 1 . Solange die Regierung in<br />

der von ihm geschaffenen Form unter den nachfolgenden Kalifen beibehalten<br />

wurde, war sie vollkommen einheitlich, und deshalb gut. Aber die Araber wurden<br />

ein Kulturvolk und damit gelehrt, gebildet, weichlich und feige; so wurden<br />

sie schließlich von rohen Völkern unterworfen. Nun wurde die Teilung<br />

der beiden Gewalten wieder eingeführt. Wenn sie auch bei den Mohammedanern<br />

weniger als bei den Christen in Erscheinung tritt, so besteht sie doch,<br />

hauptsächlich in der Sekte des Ali 2 . In einigen Staaten, wie in Persien, macht<br />

sie sich dauernd fühlbar.<br />

In Europa haben sich die englischen Könige zum Oberhaupt der Kirche<br />

gemacht; ebenso die Zaren. Aber in dieser Eigenschaft sind sie weniger die<br />

Herren als die Diener der Kirche. Sie haben weniger das Recht erworben, sie<br />

zu ändern, als die Macht, sie zu erhalten. Der Kirche gegenüber sind sie keine<br />

Gesetzgeber, sondern nur Fürsten. Überall, wo die Geistlichkeit zu einer Körperschaft<br />

zusammengeschlossen ist, ist sie Herr und Gesetzgeber in ihrem<br />

Lande 3 . Es gibt also zwei Gewalten, zwei Träger der Staatsgewalt in England<br />

und in Rußland und überall sonst.<br />

Der einzige christliche Schriftsteller, der das Übel wie das Gegenmittel<br />

richtig erkannt hat, ist der Philosoph Hobbes. Er machte den Vorschlag, die<br />

beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinigen und die politische Einheit wiederherzustellen,<br />

ohne die kein Staat und keine Regierung zu einer guten Verfassung<br />

kommen kann. Er hat aber erkennen müssen: die Herrschaft des<br />

Christentums ist mit seinem System unvereinbar, und das Interesse des Priesters<br />

wird das Staatsinteresse immer überwiegen 4 . Die Politik der Geistlichkeit<br />

hat sich nicht verhaßt gemacht, weil sie schändlich und verkehrt, sondern<br />

weil sie geeignet und richtig war.<br />

Wenn man von diesem Gesichtspunkte aus die geschichtlichen Tatsachen<br />

entwickelt, wird, glaube ich, die entgegengesetzte Ansicht von Bayle 5<br />

und Warburton leicht zu widerlegen sein. Der eine behauptet, daß keine Religion<br />

dem Staatskörper nützt, während der andere das Christentum als die<br />

kräftigste Stütze des Staates hinstellt. [Gegen] Bayle kann man den Nachweis<br />

führen, daß jeder Staat auf der Grundlage der Religion errichtet wurde, und<br />

[gegen] Warburton, daß die christliche Lehre eine kräftige Staatsordnung im<br />

Grunde mehr hinderte als förderte. Um mich vollkommen verständlich zu machen,<br />

genügt es, die allzu unbestimmten Begriffe von Religion, soweit sie für<br />

meinen Stoff in Betracht kommen, etwas schärfer zu umgrenzen.<br />

1 So kann nur einer sprechen, der nie mit dem Islam in Berührung gekommen ist.<br />

2 Alevitentum – eine im Mittelalter entstandene Sekte des Islams<br />

3 Es ist hierbei zu beachten, daß der Zusammenschluß der Geistlichkeit zu einer Körperschaft<br />

weniger durch förmliche Versammlungen zustande kommt, wie in Frankreich, sondern<br />

durch die christliche Gemeinschaft. Die Aufnahme in diese Gemeinschaft und die<br />

Ausschließung aus ihr stellen den Gesellschaftsvertrag der Geistlichkeit dar, mit dessen<br />

Hilfe sie immer über Völker und Könige herrschen wird. Alle Geistlichen, die derselben Gemeinschaft<br />

angehören, sind Mitbürger, selbst wenn sie an ganz entgegengesetzten Punkten<br />

der Erde wohnen. Diese Einrichtung ist ein politisches Meisterstück. Bei den<br />

heidnischen Priestern kennt man dergleichen nicht; sie bildeten auch nie eine Körperschaft.<br />

[JJR]<br />

4 Thomas Hobbes “Leviathan“, erste deutsche Ausgabe 1794. Deshalb hatte Hobbes es auch<br />

als Emigrant unter Emigranten in Frankreich schwer.<br />

Text unter www.welcker-online.de/Links/link_957.html verfügbar.<br />

5 Bayle - Pierre Bayle, franz. Schriftsteller und Philosoph, der zusammen mit dem 10 Jahre<br />

jüngeren Fontenelle als zentrale Figur der Aufklärung gilt. Sein wichtigstes Werk ist das<br />

“Dictionnaire historique et critique“ 1695. † 1706<br />

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