GESELLSCHAFTSVERTRAG
GESELLSCHAFTSVERTRAG
GESELLSCHAFTSVERTRAG
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Volk in einen dauernden, seiner eigenen Sicherheit schädlichen Kriegszustand<br />
mit allen anderen Völkern. Es bleibt also die allgemein menschliche<br />
oder christliche Religion übrig; nicht das heutige Christentum, sondern das<br />
des Evangelismus, das vollkommen verschieden ist. In dieser heiligen, erhabenen<br />
und wahrhaften Religion erkennen sich die Menschen, Kinder ein und<br />
desselben Gottes, alle als Brüder an, und die Gemeinschaft, die sie aneinander<br />
bindet, löst sich auch mit dem Tode nicht auf.<br />
Aber diese Religion hat zu dem Staatskörper keine besondere Beziehung<br />
und überläßt die Gesetze ihrer eigenen Kraft, ohne eine neue hinzuzutun.<br />
Dadurch bleibt ein wichtiges Bindemittel der besonderen Gesellschaftsform<br />
unausgenutzt. Ja, anstatt die Herzen dem Staat zuzuwenden, löst sie die<br />
Staatsbürger vom Staat los, wie von allen irdischen Dingen. Ich kenne nichts,<br />
was der Staatsgesinnung stärker entgegenarbeitet.<br />
Es wird behauptet, ein Volk von wahren Christen müßte die vollkommenste<br />
Gesellschaft bilden, die man sich denken kann. Ein Umstand scheint<br />
mir diese Annahme sehr zu erschweren: eine Gesellschaft von wahren Christen<br />
wäre keine Gesellschaft von Menschen mehr.<br />
Ich behaupte sogar, daß diese angenommene Gesellschaft mit all ihrer<br />
Vollkommenheit weder die stärkste noch die dauerhafteste ist; trotz aller Vollkommenheit<br />
fehlt es ihr an innerer Bindung; der zerstörende Keim liegt gerade<br />
in ihrer Vollkommenheit.<br />
Jeder würde seine Pflicht erfüllen; das Volk wäre an die Gesetze gebunden,<br />
die Männer der Regierung wären gerecht und maßvoll, die Beamten ehrlich<br />
und unbestechlich; die Soldaten würden mit Todesverachtung in den<br />
Kampf ziehen, es gäbe weder Eitelkeit noch Luxus. Das ist alles sehr schön,<br />
aber sehen wir weiter zu.<br />
Das Christentum ist eine rein geistige Religion, den Blick einzig dem<br />
Himmel zugewandt; die Heimat des Christen ist nicht von dieser Welt. Er tut<br />
allerdings seine Pflicht, aber ohne jede Rücksicht auf das gute oder schlechte<br />
Ergebnis seiner Bemühungen. Hat er sich keine Vorwürfe zu machen, so ist es<br />
ihm ganz gleichgültig, ob alles auf Erden gut oder schlecht geht. Geht es dem<br />
Staat gut, so wagt er kaum, das allgemeine Glück zu teilen; er fürchtet, daß<br />
der Ruhm seines Landes ihn hochmütig macht. Ist der Staat im Niedergang<br />
begriffen, so segnet er die Hand Gottes, die sich schwer auf sein Volk legt.<br />
Damit Friede und Eintracht in der Gesellschaft herrschend bleiben,<br />
müßten alle Staatsbürger ausnahmslos gleich gute Christen sein. Aber wenn<br />
sich unglücklicherweise ein einziger Ehrgeiziger, ein einziger Heuchler, z. B.<br />
ein Catilina oder ein Cromwell unter ihnen befindet, so wird er sicher mit seinen<br />
Landsleuten sehr leicht fertig. Christliche Milde gestattet nicht leicht,<br />
daß man über seinen Nächsten schlecht denkt. Hat er durch irgendeine List<br />
das Mittel gefunden, sie zu täuschen und sich eines Teils der öffentlichen Gewalt<br />
zu bemächtigen, so hat er es zu einer verfassungsmäßigen Stellung gebracht.<br />
Gott will, daß man ihn achtet. Bald ist er eine Macht; Gott will, daß<br />
man ihm gehorcht. Nutzt er seine Macht aus, so ist er die Rute, mit der Gott<br />
seine Kinder straft. Das Gewissen erlaubt nicht, den unrechtmäßigen Machthaber<br />
zu vertreiben, man müßte dazu die öffentliche Ruhe stören, Gewalt gebrauchen<br />
und Blut vergießen. Das verträgt sich alles schlecht mit der christlichen<br />
Sanftmut, und was tut es schließlich, ob man in diesem irdischen<br />
Jammertal frei oder geknechtet ist ? Eins ist not: in das Paradies einzugehen,<br />
und die Entsagung ist nur ein weiteres Mittel dazu.<br />
Bricht irgendein auswärtiger Krieg aus, so ziehen die Staatsbürger ohne<br />
weiteres in den Kampf; keiner von ihnen denkt an Flucht, sie tun ihre Pflicht,<br />
87