GESELLSCHAFTSVERTRAG
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ung auszuschließen? Wäre so etwas möglich, gäbe es bald viele symbolische<br />
Besitzergreifungen ohne rechtlichen Inhalt. Der König von Spanien könnte<br />
dann mit gleichem Recht von seinem Arbeitszimmer aus von der ganzen Erde<br />
Besitz ergreifen und brauchte nur den früher von anderen Fürsten besessenen<br />
Teil auszunehmen.<br />
Man begreift, wie durch Vereinigung aneinandergrenzender Privatgrundstücke<br />
Staatsgebiet entstehen konnte; das Recht der Staatsgewalt ging<br />
von der Person der Untertanen auf den von ihnen besessenen Boden über und<br />
wurde dinglich und persönlich zugleich. Dadurch geraten die Besitzer in ein<br />
erhöhtes Abhängigkeitsverhältnis, ihr Besitz bürgt für ihre Treue. éDiesen<br />
Vorteil scheinen die Herrscher des Altertums nicht erkannt zu haben, denn<br />
sie nannten sich selbst nur Könige der Perser, der Skythen, der Mazedonier<br />
und sahen sich offenbar nur als Oberhäupter der Völker, nicht als Herren der<br />
Länder an. Die Herrscher unserer Tage sind klüger und nennen sich Könige<br />
von England, von Spanien usw. Da der Boden in ihrer Gewalt ist, glauben sie<br />
auch die Bewohner in ihrer Gewalt zu haben.<br />
Das Eigentümliche bei dieser Entäußerung liegt darin, daß die Gemeinschaft<br />
das Privateigentum zwar annimmt, den einzelnen dabei aber keineswegs<br />
enteignet; sie sichert ihm im Gegenteil den unbestreitbaren Besitz, sie<br />
verwandelt angemaßtes in wirkliches Recht, Nießbrauch 1 in Eigentum. Die<br />
Besitzer gelten jetzt als Verwahrer öffentlichen Eigentums, ihre Mitglieder<br />
werden jetzt von allen Mitgliedern des Staates geachtet und mit allen Kräften<br />
gegen Fremde geschützt. Durch diese für sie und den Staat günstige Abtretung<br />
haben sie eigentlich alles erworben, was sie hingegeben haben, ein Widerspruch,<br />
der sich später leicht durch die Unterscheidung zwischen den<br />
Rechten des Trägers der Staatsgewalt und des Eigentümers am Boden erklären<br />
wird.<br />
Es ist übrigens auch denkbar, daß die Menschen sich zusammenschließen,<br />
ehe sie etwas besitzen, daß sie einen für alle ausreichenden Grund und<br />
Boden in Besitz nehmen, ihn gemeinsam ausbeuten oder so unter sich aufteilen,<br />
daß jeder in gleichem Maße oder in einem durch den Träger der Staatsgewalt<br />
festgesetzten Verhältnis beteiligt wird. Wie dieser Erwerb auch zustande<br />
kommt, das Recht des einzelnen auf seinen eigenen Grund und Boden<br />
ist immer dem Recht der Gemeinschaft auf die Gesamtheit des Bodens untergeordnet;<br />
denn sonst wäre das staatliche Band nicht fest genug und die kräftige<br />
Ausübung der Staatsgewalt nicht möglich.<br />
Ich will das Kapitel und damit das erste Buch mit folgendem Hinweis<br />
schließen, der dem ganzen politischen System als Grundlage dienen muß: der<br />
Grundvertrag zerstört keineswegs die natürliche Gleichheit, er setzt im Gegenteil<br />
eine rechtlich und sittlich begründete Gleichheit an die Stelle der natürlichen<br />
und körperlichen Ungleichheit; er bewirkt, daß die Menschen, auch<br />
wenn sie an Kräften und Talenten ungleich sind, vertraglich und rechtlich<br />
gleich werden 2 .<br />
1 Nießbrauch - das einer bestimmten Person (Nießbraucher) zustehende dingliche, höchstpersönliche<br />
Recht, aus einem fremden Gegenstand (bewegliche Sachen, Grundstück,<br />
Recht, Vermögen) im Rahmen einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung sämtliche Nutzungen<br />
zu ziehen (§§ 1030 folgende BGB).<br />
2 Unter schlechten Regierungen ist diese Gleichheit nur Schein und Täuschung; sie dient<br />
nur dazu, den Armen in seinem Elend zu halten und den angemaßten Besitz des Reichen<br />
zu sichern. Tatsächlich nützen hier die Gesetze immer den Besitzenden und schaden den<br />
Besitzlosen. Der staatliche Zustand bedeutet für die Menschen nur dann einen Vorteil,<br />
wenn sie alle etwas und keiner zuviel besitzt. [JJR]<br />
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