PDF des gesamten Heftes (5MB) - Institut für Theorie ith
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31 — # 08/09 (Dezember 2006)<br />
Das Magazin <strong>des</strong> <strong>Institut</strong>s <strong>für</strong> <strong>Theorie</strong><br />
der Gestaltung und Kunst Zürich (<strong>ith</strong>)<br />
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nur mit Leuten ihrer Szene. Es gibt<br />
einen sehr großen Widerspruch zwischen<br />
den propagierten Inhalten und<br />
den eigenen Praktiken einer solchen<br />
Szene.<br />
MH Das ist doch das alte Problem zwischen<br />
Reformisten und Puristen. Die<br />
Puristen vertreten die reine Lehre und<br />
kümmern sich nicht um Vermittlung,<br />
sondern kreieren Orte, um ihre <strong>Theorie</strong><br />
zu predigen oder im guten Fall weiterzuentwickeln.<br />
Da<strong>für</strong> braucht man kein<br />
Publikum. Ich gehöre zu den Reformisten<br />
und vermute, dass es mir nicht<br />
gelingt, aus dem System herauszukommen,<br />
ich die Welt also so nicht verändern<br />
kann und dass ich auch ganz gut<br />
darin lebe. Trotzdem gibt es Dinge, die<br />
ganz dringend und immer wieder kritisiert<br />
werden müssen, und da<strong>für</strong> biete<br />
ich so vielen Leuten wie möglich eine<br />
Plattform. Das sind ja nichts mehr als<br />
kleine Reformversuche. Ein Purist sagte<br />
mal zu mir: Christoph Schlingensief,<br />
der macht doch nur Theater. Das stimmt<br />
natürlich, aber immerhin verschafft er<br />
Minderheitenthemen auch immer wieder<br />
mal Mainstream-Aufmerksamkeit.<br />
Zugegebenermaßen vor allem dann,<br />
wenn er das Theater verlässt. Solche<br />
Wirksamkeit wünscht ihr euch doch<br />
auch. Im Fall von Schlingensief ist<br />
Popularisierung nicht Verdummung,<br />
sondern schafft es, wichtige Themen<br />
wie Rassismus oder Behinderung so<br />
auf die Frontseite der Bildzeitung zu<br />
setzen, dass diese Themen anders,<br />
nämlich kritisch, diskutiert werden.<br />
GZ Die Unterteilung eines <strong>Theorie</strong>duktus<br />
in einen reformistischen und einen<br />
puristischen ist mir etwas zu einfach.<br />
Es geht ja nicht nur um didaktische<br />
Fragen, sondern auch darum, was<br />
andere Darstellungen von <strong>Theorie</strong> <strong>für</strong><br />
die <strong>Theorie</strong> bewirken. <strong>Theorie</strong> in anderen<br />
Settings zu inszenieren, heißt ja<br />
nicht nur einfach, ein möglichst großes<br />
Publikum zu ‹bespaßen›. Vielmehr<br />
bringt man heterogene Themen und<br />
Menschen zusammen und bespielt<br />
andere Räume. Das sind alles auch<br />
institutionskritische Akte, außerdem<br />
ergeben sich andere Erfahrungen und<br />
damit auch Fragen.<br />
MH Über die Frage, was eine <strong>Institut</strong>ion<br />
wie ein Schauspielhaus heute <strong>für</strong> unsere<br />
Gesellschaft leisten kann, mache ich<br />
mir mit meinen Projekten immer<br />
Gedanken. Insofern ist der institutionskritische<br />
Aspekt ein wichtiger. <strong>Theorie</strong>,<br />
Politik oder soziale Projekte im Theater<br />
sind aus Theatersicht immer schon<br />
institutionskritisch. Mein Ziel ist es ja,<br />
weniger das Abonnentenpublikum —<br />
soweit es das überhaupt noch gibt — als<br />
die durchschnittliche lokale Bevölkerung<br />
der Stadt aktiv mit einzubeziehen<br />
und sie zu animieren, ihre Fähigkeiten<br />
oder Eigenheiten zu zeigen. Und das<br />
hat bisher auch wiederholt funktioniert.<br />
In solchen Aktionen liegt zukünftig ein<br />
großes Potential. Die Zeiten, in denen<br />
große repräsentative Kunst mit autokratischen<br />
Regisseuren produziert<br />
wird, sind doch längst vorbei. Da ich<br />
kein Theoretiker, sondern Kurator bin,<br />
kann ich zu den anderen Erfahrungen<br />
nur sagen, dass die Theoretiker es oft<br />
sehr schätzen, in diesen Settings aufzutreten.<br />
Meistens macht es ihnen Spaß,<br />
mal ganz woanders zu sein als im üblichen<br />
Konferenzraum, und sie erfahren<br />
dabei auch etwas anderes über sich und<br />
ihre <strong>Theorie</strong>. Vielleicht ist der Gewinn<br />
<strong>für</strong> die <strong>Theorie</strong> dann auch erst bei<br />
ihrem nächsten oder übernächsten Vortrag<br />
zu bemerken.<br />
GZ Letzteres kann ich bestätigen. Für<br />
die <strong>Theorie</strong>-Therapeuten beispielsweise<br />
war nicht nur die Kürze, sondern<br />
auch das Spiel zwischen Ernsthaftigkeit<br />
und Spaß in den Anliegen der Patienten<br />
sehr herausfordernd und irritierend.<br />
Auch haben die Patienten ihre Fragen<br />
natürlich offensichtlich aus ihrer Biographie<br />
heraus gestellt. Das gefiel mir<br />
bei<strong>des</strong>, denn sowohl die Bindung der<br />
Biographie an <strong>Theorie</strong> als auch das Hin<br />
und Her zwischen Ernst und Spaß sind<br />
wichtige Motivationen von <strong>Theorie</strong>bildung,<br />
die im Zeitraffer pointiert zur<br />
Darstellung kamen. Aber, erzähle du<br />
noch etwas über dein Interesse an <strong>Theorie</strong>:<br />
Was hast du <strong>für</strong> ein <strong>Theorie</strong>verständnis?<br />
MH Für mich ist <strong>Theorie</strong> dazu da, komplizierte<br />
Sachverhalte zu erklären und<br />
Lösungsansätze vorzuschlagen…<br />
GZ …im Gegenteil: Gute <strong>Theorie</strong> geschieht<br />
gerade dann, wenn man nichts<br />
versteht. Wenn man merkt, dass einfache<br />
Lösungen <strong>für</strong> ein Problem nicht zu<br />
haben sind — wie im Theater.<br />
MH Vielleicht. Trotzdem nochmals zu<br />
den Lösungen: Die Lösungsmöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> gesellschaftliche Probleme sind<br />
andere als diejenigen, die aus der<br />
Industrie, Wirtschaft oder Politik kommen,<br />
da <strong>Theorie</strong>produzierende nicht<br />
unbedingt ökonomische Ziele verfolgen.<br />
Sie tun es zwar auch, aber es geht<br />
ja um viel weniger Geld. <strong>Theorie</strong> ist<br />
somit auch immer ein Instrument der<br />
Kritik. Wenn ich über <strong>Theorie</strong> im Theater<br />
nachdenke, gilt natürlich noch was<br />
anderes: Sie darf nicht langweilig sein.<br />
Ich habe wie im Theater in einem 800-<br />
Leute-Saal eine Toleranzgrenze von<br />
etwa 20 Minuten; wenn in dieser Zeit<br />
nichts in einem Vortrag oder Gespräch<br />
passiert, verlassen die ersten Zuschauer<br />
den Raum.<br />
)