PDF des gesamten Heftes (5MB) - Institut für Theorie ith
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Kritik der Unterhaltung<br />
Wie wir wissen, gibt es nichts Langweiligeres als die Unterhaltung, doch wo liegen die Gründe da<strong>für</strong>? Die Antwort<br />
findet sich darin, dass nur jene Verhältnisse, die ihre eigene Stabilität durch Unterdrückung verwirklichen, Unterhaltung<br />
benötigen. Ziel ist es, den Widerstand an eben jenen Verhältnissen einzuschläfern, und <strong>des</strong>halb hat die Unterhaltung<br />
niemals belebende oder aufrüttelnde Wirkung, betäubende Langweile ist ihr Sinn, die Unruhe ihr Feind. In der<br />
modernen Welt kommt der Produktionsmenge von Waffen nur die der Unterhaltung gleich, was neben ihrer Unmoral<br />
vor allem ihr rein industrielles Wesen beweist. Es gab keine Unterhaltung vor der Unterhaltungsindustrie, und ihr<br />
Erfolg beruht auf der weit gehenden Unabhängigkeit von den Produktionsmitteln. Sie benötigt lediglich eine effiziente<br />
Organisationsform. Die beste Unterhaltung folgt aus der effizientesten Organisation, sie ist ihr Abfallprodukt, und was<br />
sie organisiert, ist Masse.<br />
Es geht der Unterhaltung darum, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Anzahl Menschen, die entweder möglichst groß<br />
oder aber sich untereinander möglichst ähnlich sein sollen, zu versammeln. Je ähnlicher sich die Menschen dieser<br />
Masse sind, umso kleiner muss sie sein, und umgekehrt. Es ist einfach, ein Dutzend Ärzte gleichzeitig zu unterhalten,<br />
ungleich schwieriger wird es, wenn es sechs Ärzte und sechs Hufschmiede sind, noch schwieriger, wenn vier Ärzte,<br />
vier Hufschmiede und vier Bäuerinnen zusammen kommen, und die Sache der Unterhaltung muss unweigerlich scheitern,<br />
wenn von den versammelten zwölf Menschen keiner denselben Beruf ausübt.<br />
Es geht dabei natürlich nicht um den Beruf. Wenn in diesem Dutzend zufällig zwölf Brillenträger sein sollten, so wird<br />
man sich ohne Schwierigkeit unterhalten können, und wenn nicht, so wird man von den restlichen ebenfalls Brillen<br />
verlangen. Erst durch Gewalt kommt Masse zu Stande, erst durch Masse Unterhaltung, nicht etwa durch eine Darbietung,<br />
eine Vorführung, ein Buch. Es gibt keine Subjekte in der Unterhaltung, und die Gründe, aus denen sich die Masse<br />
versammelt, sind so einerlei wie der Ort, an dem sie sich versammelt.<br />
Es ist unmöglich, sich alleine oder zu zweien zu unterhalten. Nur Pietisten und Katholiken behaupten, Selbstbefriedigung<br />
sei Unterhaltung. Tatsächlich ist sie ihr größter Protest, und selbst in der Zweisamkeit ist noch keine Unterhaltung<br />
möglich; erst durch drei Menschen ergibt sich das kleinstmögliche ausbeutbare Abhängigkeitsverhältnis, ist es<br />
erst möglich, einen ersten Menschen vor den Augen eines zweiten zu erniedrigen und einen dritten daraus Profit<br />
schlagen zu lassen. Das Niederträchtige an der Prostitution ist auch nicht die Prostitution selbst, sondern die Zuhälterei.<br />
Sie erst macht Prostitution zur Unterhaltung.<br />
Da sich die Unterhaltung das Bedürfnis nach sich selbst schafft, wird sie nach ihrer Abschaffung unvermisst bleiben.<br />
An ihre Stelle wird die Zerstreuung treten, statt Vermassung also Aufteilung in die vielfältigen und unvereinbaren<br />
Teile <strong>des</strong> Geistes. Weil sie sich nicht organisieren lässt, ist sie auch nicht ausbeutbar. Die ausschweifende Zerstreuung<br />
ist launisch, sie lässt sich nicht herstellen, nur in Gang setzen, kennt keine Konzentration und keine Beschränkung,<br />
auch nicht auf das Wesentliche. Das Wesentliche nimmt sie wie das Unwesentliche, und gerade dadurch wird sie<br />
erheblich. Das unkontrollierte Schweifen, der Spaziergang <strong>des</strong> Geistes durch seine verschiedenen, entlegenen Landschaften,<br />
einmal durch verödete, gefährliche, abenteuerliche, und gleich darauf durch reiche, kultivierte, sichere,<br />
gemächliche Gegenden, ist die Eigenart der Zerstreuung, das Nebeneinander <strong>des</strong> Hehren und <strong>des</strong> Niederen ihr Merkmal.<br />
Dieses Merkmal teilt sie mit der Freiheit, und wie aus jener lässt sich auch aus dieser kein Profit schlagen. Niemand<br />
und zuletzt der sich zerstreuende Mensch weiß, wohin die Zerstreuung führt. Die Zerstreuung hält sich nicht<br />
an Pläne, nicht an Zäune, schläft unter Brücken, badet nackt in Flüssen und nimmt Partei <strong>für</strong> jede gerechte Sache, auf<br />
die sie zufällig trifft. All dies wird die Unterhaltung zu unterdrücken versuchen, denn sie ist, wie alles Sesshafte, totalitär<br />
und <strong>für</strong>chtet nichts mehr als die Vagabunderei <strong>des</strong> Menschen und seines Geistes.