PDF des gesamten Heftes (5MB) - Institut für Theorie ith
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Das Manuskript<br />
in der Flasche<br />
1 Philipe Quinault, Atys (1676), zit. nach Edgar<br />
Allan Poe, Das Manuskript in der Flasche (1833),<br />
wo das Zitat als Motto der Erzählung fungiert.<br />
Die massive, unbeschriftete Tür im<br />
vierten Stock lässt sich schwer öffnen,<br />
nur wenn man zeitgleich den Schlüssel<br />
nach innen drückt, indem man ihn<br />
dreht, und die Klinke an sich heranzieht,<br />
schnappt das Schloss auf und<br />
gibt den Weg frei. Auf den ersten drei<br />
Metern geht es durch einen dämmerigen<br />
Canyon, an <strong>des</strong>sen Regalwänden<br />
linkerhand Bücher, zur Rechten Kartons<br />
und flache, grünlich schimmernde,<br />
mit filzstift beschriftete Plastikschachteln,<br />
in denen sich lose Ausschnitte stapeln,<br />
emporwachsen.<br />
Darauf öffnet sich der Raum in<br />
eine lichte Ebene, die an drei Seiten<br />
wiederum von Regalen, hölzernen und<br />
metallenen, angefüllt mit aufrecht stehenden,<br />
liegenden, schräg verrutschten<br />
Büchern, Zeitschriften, Schallplatten,<br />
Kassetten, Compactdiscs, Videotapes,<br />
Kartons eingefasst ist. An der Fensterfront,<br />
der Blick geht nordöstlich auf<br />
die Schnell-Bahn Geleise und die Rote<br />
Insel, bilden fünf etwa gleich hohe<br />
Tische, aneinandergereiht, eine durchgängige<br />
Arbeitstafel. Auf dieser finden<br />
sich Kästen mit Briefmarken, das Stempelrad,<br />
die Waage, Lineale, Stifte, der<br />
Tacker, das Klebeband, Papierstapel,<br />
der Laserdrucker, das Fax, das Telefon,<br />
die Wirelesslocalareanetwork Box,<br />
der Monitor, die Maus, die Tastatur, der<br />
Scanner, der Fotokopierer, die Dreierstecker,<br />
der Kabelsalat.<br />
In der Mitte <strong>des</strong> Raumes ein ovaler<br />
Tisch, umgeben von vier verschiedenen<br />
eingesessenen Stühlen, Aschenbecher,<br />
Kaffeekanne, Tassen, ein freistehen<strong>des</strong><br />
Regal, mit jeweils einem<br />
Exemplar aller Merve-Bände der letzten<br />
dreißig Jahre bestückt, dahinter<br />
eine Couch, die ein flaches, schlichtes<br />
Bett ohne Kissen begrenzt. Nicht zu<br />
vergessen der in eines der Regale eingesetzte<br />
Fernseher mitsamt Digitalversatiledisc-Spieler,<br />
die Stereoanlage mit<br />
Kassettendeck, Receiver und Compactdisc-Spieler,<br />
die Boxen an der Decke.<br />
Ein fensterloser Durchgang, der als<br />
Küche dient, der Kühlschrank, die Spüle,<br />
der Geschirrschrank, das Vorratsregal,<br />
das fensterlose Klo, die Dusche und ein<br />
halbes Zimmer mit französischem Balkon<br />
schließen sich am anderen Ende<br />
an. In der Dunkelheit leuchten Neonröhren<br />
den Raum gleichmäßig aus.<br />
So stellt sich, grob aufgelöst und -gelistet,<br />
die Hardware, das Gehäuse <strong>des</strong><br />
Merve Verlages dar. Es riecht unaufdringlich<br />
nach kaltem Tabakrauch, ein<br />
Fenster ist meist geöffnet; wenn die<br />
Schnell-Bahnen vorbeifahren, dringt<br />
das schleifende Geräusch der Elektromotoren<br />
und das Tackern der Räder,<br />
die über die Gleisnähte rollen, herauf.<br />
An heißen Tagen sorgt ein Standventilator<br />
<strong>für</strong> Wind, der Abkühlung antäuscht.<br />
Kein allzu ungewöhnlicher Ort,<br />
auch auf den zweiten Blick; er wirkt<br />
vollzählig und in seiner Anordnung<br />
abgestimmt auf das, was in ihm geschieht.<br />
Davon handeln die folgenden<br />
Abschnitte.<br />
Qui n’a plus qu’un moment à vivre,<br />
N’a plus rien à dissimuler.[1]<br />
Ganz wie Blixa Bargeld, er müsste es<br />
gewesen sein, einmal die Arbeit <strong>des</strong><br />
Dichters mit der eines Klempners abgeglichen<br />
hat, ist auch die Arbeit <strong>des</strong> Verlegens<br />
in ein vielfach faltbares, nicht<br />
ganz schlüssiges Feld eingefasst. Ausgehend<br />
von einer offen gehaltenen Auslegung<br />
<strong>des</strong> Begriffes vom ‹Verlegen›<br />
sollen hier vier Eckpfeiler einen Teil<br />
dieses Fel<strong>des</strong> markieren, wie es bei und<br />
von Merve immer wieder aufs Neue<br />
vermessen wird. Insbesondere mit dem<br />
Beginn der Zusammenarbeit von Heidi<br />
Paris und Peter Gente entwickelte sich<br />
bei Merve ein genuiner Zugang zur<br />
<strong>Theorie</strong>, der die Philosophie mit einer<br />
Vielzahl von Bezügen zu nicht-akademischen<br />
Welten kontaminierte. Die<br />
Veröffentlichung von Rhizom (1977)<br />
markierte einen Wendepunkt, der<br />
programmatisch genannt werden müsste,<br />
wenn dies nicht der Denk- und<br />
Handlungsfigur «Rhizom» entgegenstünde.<br />
Merve weitete in der Folge die<br />
Einbahnstraße Autor-Verleger-Leser<br />
zu einem immer distinkten aber nie<br />
statischen Feld offener Bezugnahmen<br />
und wechselnder Rollen. Mit, um und<br />
durch den Verlag bildete sich eine offene<br />
Szene, die eher einem <strong>Theorie</strong>labor<br />
oder einer <strong>Theorie</strong>maschine als einer<br />
<strong>Theorie</strong>fabrik glich. Was den unbelegten<br />
Vorbildcharakter von Warhols<br />
«Factory» nicht schmälern soll, sondern<br />
einen Hinweis auf die Weiterentfaltung<br />
geben mag. Peter Gente hat kürzlich in<br />
einem Interview auf die Frage, was er<br />
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