Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 105<br />
Monaten wieder so weit in Ordnung ist, dass er als Handlanger Arbeit finden kann.<br />
Ich würde es nicht wagen, nochmals einen Lehrvertrag abzuschliessen.»<br />
Malermeister G. hat «nachträglich noch sehr unerfreuliche Dinge von B.» erfahren.<br />
B. K. sei auch in der Gewerbeschule «wegen ungebührlichem Benehmen» schon<br />
zweimal mit Ausschluss verwarnt worden, und «der Polizist, der B. abholte, vermutet,<br />
was meine Frau und ich schon länger ahnen, dass B. auf den Strich geht, da er<br />
sich auf Bahnhöfen umhertreibt. Auch ist seine Unter- und Bettwäsche darnach.»<br />
Am 18. März 1959 wird B. K. durch die Polizei in die Arbeiterkolonie Herdern<br />
eingeliefert, fünf Tage später ist er von dort aber bereits wieder verschwunden. Siegfried<br />
veranlasst umgehend die polizeiliche Fahndung und Überstellung in die Anstalt<br />
Bellechasse in Sugiez FR und bittet die Vormundschaftsbehörde der Heimatgemeinde<br />
«um eine kurz gefasste Ermächtigung, dass ich K. <strong>für</strong> mindestens ein Jahr in<br />
Bellechasse einweisen darf».<br />
Mit Datum vom 26. März meldet das Polizei-Corps Thurgau dem Bezirksamt Steckborn<br />
wie der Pro Juventute unter Rechnungstellung die Ausführung des Auftrags,<br />
und am 4. April liegt schliesslich auch die von Siegfried gewünschte Ermächtigung<br />
der Heimatgemeinde vor.<br />
Auf dem offiziellen Briefpapier der Anstalt Bellechasse wendet sich B. K. am 19.<br />
Mai per Einschreiben an die Behörden seiner Heimatgemeinde mit den Worten:<br />
«Diene Ihnen zur Kenntnis, dass es nun 20 Jahre sind, dass Dr. Sigfriet von der Pro<br />
Juventute in Zürich, als mein Vormund beisteht. Heute bin ich nicht mehr einverstanden,<br />
letzteren als mein Vormund anzuerkennen. Ich erachte es heute nun als vorteilhafter,<br />
wenn ich den Vormund wechsle.»<br />
Die Reaktion der angefragten Behörde lässt fast einen Monat auf sich warten und ist<br />
ausgesprochen scharf. Sie gipfelt in den Worten: «Ihrem Begehren können wir leider<br />
(leider, natürlich nur <strong>für</strong> Hrn. Dr. Siegfried) nicht entsprechen. Wir können Sie aber<br />
versichern, dass es unser sehnlichster Wunsch ist, Sie soweit zu bringen, dass Sie<br />
keinen Vormund mehr benötigen.» Darauf entschuldigt sich B. K. bei Siegfried, der<br />
über die Angelegenheit auf dem laufenden ist, <strong>für</strong> seinen Vorstoss. Er sei dazu von<br />
seinem Bruder K., der sich demzufolge damals ebenfalls in Bellechasse befand,<br />
angestiftet worden. Der Heimatgemeinde teilt er seinen Gesinnungswandel am 19.<br />
Juli mit, bittet aber, «da<strong>für</strong> besorgt zu sein, mir mitzuteilen, wie lange die Strafzeit<br />
<strong>für</strong> mich in Bellechasse bestimmt ist: Die Ungewissheit in dieser Hinsicht macht<br />
mich ungeduldig & nervös. Eine positive, prompte Antwort über den Zeitpunkt meiner<br />
Gefangenschaft zu wissen, ist mir gelegen. Als zum erstenmal Verurteilter &<br />
Versorgter dürfte ich mit 8–9 Monaten Strafzeit davon kommen. Umsomehr, zumal<br />
ich heute zur Einsicht gekommen bin, dass es zuletzt nicht nach meinem Kopf geht,<br />
sondern mich meinem Vormund & Vorgesetzten auf dem Arbeitsplatz<br />
unterzuordnen habe. In der angenehmen Hoffnung, dass Sie, meine Herren,<br />
Milderung in meiner Strafzeit walten lassen, begrüsse ich Sie<br />
Hochachtungsvoll.» 261<br />
261 Beide Briefe an seine Heimatgemeinde wurden wahrscheinlich nicht von B. K. selbst geschrieben.<br />
Jedenfalls unterscheidet sich nicht nur die Handschrift sehr markant von allen anderen<br />
Briefen K.s, sondern auch der geschwollene, formelle Duktus.