Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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60 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
Einige davon stehen z. Zt. in der Berufslehre. Leider müssen mehrere Kinder und<br />
Jugendliche eindeutig zu den Minderbegabten gezählt werden, worunter auch die<br />
Imbezillität vorkommt.» 160 Solche und ähnliche Beurteilungen finden sich in den<br />
Berichten des «Hilfswerks» zuhauf. 161<br />
Diese Einschätzung basierte in erster Linie auf den Arbeiten verschiedener Psychiater,<br />
die sich mit den Fahrenden beschäftigten und die insbesondere an Fragen der<br />
Rassenhygiene und der Eugenik interessiert waren. Vor allem die Kantonale Psychiatrische<br />
Klinik «Waldhaus» in Chur spielte eine wichtige Rolle. Hier wurden im<br />
Laufe der Amtszeit von vier Chefärzten ausführliche Studien zu Fahrenden durchgeführt.<br />
Man holte Informationen bei Gemeinden und Behörden ein, vermass zeitweise<br />
die Köpfe, erstellte Stammbäume, die z. T. 200 Jahre zurückreichen und in denen<br />
einzelne Personen als «lasterhaft», «sexuell haltlos», «moraldefekte Psychopathen»,<br />
«mannstoll», «unverbesserliche Alkoholiker», «schizophren» tituliert wurden. Der<br />
ehemalige Chefarzt, Dr. Gottlob Pflugfelder, bestätigte die Existenz zahlreicher<br />
Unterlagen zu den Fahrenden (Stammbäume, Gutachten, Belege) im «Waldhaus»-<br />
Archiv. 162<br />
Josef Jörger, ebenfalls jahrelang Direktor der Klinik «Waldhaus», schuf mit seinen<br />
«Psychiatrischen Familiengeschichten» ein europäisch bekanntes Standardwerk. Er<br />
führte bei seinen Sippenforschungen jenen Code von Decknamen <strong>für</strong> die einzelnen<br />
jenischen Familien ein, der über 60 Jahre lang in Gebrauch blieb und auch vom<br />
«Hilfswerk» verwendet wurde. Seine erste einschlägige Abhandlung erschien in der<br />
von Alfred Ploetz, einem der geistigen Väter der Rassenhygiene, begründeten Zeitschrift<br />
«Archiv <strong>für</strong> Rassen- und Gesellschaftsbiologie» unter dem Titel «Die Familie<br />
Zero». 163 Jörgers psychiatrische Familienforschungen sollten den Nachweis der<br />
Erblichkeit folgender «Abirrungen vom gewöhnlichen Familientypus» bei den jenischen<br />
Familien erbringen: «Vagabundismus, Verbrechen, Unsittlichkeit, Geistesschwäche<br />
und Geistesstörung, Pauperismus». 164 Zur Durchbrechung der von ihm<br />
über Jahrhunderte hinweg diagnostizierten Vererbung solcher Erscheinungen in den<br />
jenischen Familien schlug Jörger ein Vorgehen vor, das sowohl die milieubedingte<br />
als auch die genetische Vererbung ausschalten sollte, nämlich die Kindswegnahme<br />
als Verhinderung der Weitergabe von kulturspezifischen Traditionen einerseits und<br />
als Voraussetzung zur Vermischung des biologischen Erbguts der Fahrenden mit der<br />
Erbmasse der Sesshaften andererseits. «Die Markus holen ihre Gattinnen mit Vorliebe<br />
aus dem eigenen Geschlecht, oder aus befreundeten Sippen […]. Von rund 90<br />
Ehen fallen auf das eigene Geschlecht 10, auf die Wolzer 22, auf andere Vagantenfamilien<br />
ca. 48 und auf Bauern- und Handwerkskreise nur ca. 12 Ehen. Anpassung<br />
und Assimilation durch das gewöhnliche Volk liegt also noch in weiter Ferne. […]<br />
Es dürfte wohl kein anderes Mittel des Ausgleiches geben, als die ganz frühe Entfernung<br />
der Kinder aus der Familie und eine möglichst gute Erziehung und Hebung auf<br />
160 Jahresbericht 1959 des Hilfswerkes <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, Dr. P. Doebeli, 16. Jan. 1960,<br />
BAR, J II.187, 1202.<br />
161 Ähnliche Beurteilungen finden sich häufig auch bei Beschreibungen sogenannter «primitiver Völker»,<br />
etwa der Aborigines in Australien. Es erstaunt daher auch nicht, dass hier wie dort teilweise<br />
die gleichen oder ähnliche Methoden der Kindswegnahme praktiziert wurden.<br />
162 Caprez, Hans, «Das grenzt an Rassismus», Beobachter 13/1988, 16.<br />
163 München, 2 (1905) 494–559.<br />
164 Jörger, Josef, Psychiatrische Familiengeschichten, Berlin 1919, 1.