Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 35<br />
Glück frühzeitig in eine gesunde Umgebung kamen, oder deren Mütter aus braven<br />
Familien stammten, zum grössten Teil den Weg zur menschlichen Gemeinschaft<br />
wieder gefunden haben». 61 Mit dieser Formulierung schloss Jörger die Fahrenden<br />
zugleich aus der menschlichen Gemeinschaft aus.<br />
Zumindest am Anfang bestand aber offensichtlich eine gewisse Unsicherheit über<br />
die Rolle der Eltern. Im ersten Jahresbericht wurde vermeldet, ein 16jähriger Knabe<br />
sei «wegen Heimweh» heimgeschickt worden. Allerdings hatten dessen Eltern ein<br />
kleines Gut gekauft und sich sesshaft gemacht. 62 Im ersten bekannten Fall der im<br />
Tessin abgeholten Kinder wurden die Eltern sogar in die Nähe der Kinder geholt:<br />
«Um die Verbindung zwischen Eltern und Kindern nicht völlig abzubrechen, hatten<br />
wir dem Mann in Zürich Arbeit auf einer Baustelle verschafft, und so zog er mit<br />
seiner Frau […] auch nach Zürich.» Der Vater habe sich «geschickt und fleissig»<br />
gezeigt, sei aber schon in der ersten Woche mehrmals weggeblieben, betrunken am<br />
Arbeitsplatz erschienen und schliesslich nach kaum 14 Tagen wieder in den «sonnigen<br />
Süden» zurückgereist. Diese Verhaltensweise ist nach Siegfried typisch; alle<br />
Versuche, mit den Kindern auch die Eltern sesshaft zu machen, seien immer wieder<br />
gescheitert. 63<br />
In der Folge praktizierte das «Hilfswerk» die radikale Trennung. In zahlreichen<br />
Fällen kam es zur Entmündigung von Eltern, die sich gegen die Wegnahme der Kinder<br />
wehrten. Wenn es den Eltern gelang, die Kinder zu finden und zurückzuholen,<br />
was im Berichtsjahr 1931/32 fünfmal vorkam, sprach Siegfried von einer «Entführung<br />
durch die Eltern». 64<br />
Nach der Trennung wurden familiäre Kontakte systematisch verhindert, Siegfried<br />
scheute keinen Aufwand, um die Eltern von ihren Kindern fernzuhalten. In arrogantem<br />
Ton wies er etwa eine Mutter zurecht, die sich 1936 an den «Beobachter»<br />
gewandt hatte: «Der Beobachter hat uns ihren Brief vom 22. Oktober zugeschickt.<br />
Schämen Sie sich nicht, so zu lügen. Sie wissen ganz genau, warum Ihnen die Behörde<br />
Ihr Stiefkind wegnehmen will. Sollten Sie es nicht wissen, so könnten Sie hier<br />
[d. h. beim Zentralsekretariat der Pro Juventute] einmal die nötigen Aufklärungen<br />
bekommen.» 65 Auch vor massiven Drohungen schreckte er nicht zurück: Die Eltern<br />
sollten keine Schwierigkeiten machen, liess er in einem Fall von 1963 [!] wissen,<br />
«sonst wüsste ich mir dann schon zu helfen […]». 66<br />
In der Familienbindung sahen nicht nur die «Hilfswerk»-Vertreter und -Vertreterinnen,<br />
sondern auch viele Vormundschaftsbehörden die Wurzel allen Übels, eine<br />
«Sanierung» schien in den wenigstens Fällen möglich, häufig komme nur eine «Unschädlichmachung»<br />
solcher Familien in Betracht, stellte eine Bündner Vormundschaftsbehörde<br />
fest. 67 Die Liebe der fahrenden Mütter bezeichnete Siegfried als<br />
«sehr primitiv, um nicht zu sagen animalisch», seine Nachfolgerin Reust sprach ein-<br />
61 Zit. nach NZZ, 13. Juni 1926.<br />
62 Bericht über die Fürsorge <strong>für</strong> Kinder vagabundierender Schweizerfamilien <strong>für</strong> das erste Geschäftsjahr,<br />
1. Juli 1926–31. Juni 1927, BAR, J II.187, 1266.<br />
63 Siegfried, Kinder, 1963, 9f.<br />
64 Tätigkeitsbericht 1931/32 aus der Nr. 12 der Mitteilungen des Hilfswerkes <strong>für</strong> die Kinder der<br />
Landstrasse, Juli 1932, 1.<br />
65 Brief Siegfried an Frau W. K.-T. in M. AG vom 4. Dez. 1936, BAR, J II.187, 641<br />
66 Brief Siegfried an Frl. G.K. in Wettingen AG, 7. März 1951, BAR, J II.187, 468.<br />
67 Vormundschaftsbehörde L. GR, 5. Juli 1934, BAR, J II.187, 201.