Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 139<br />
sekretariat, Pro Juventute und Pfarramt Personalunion darstellen, ist es manchmal<br />
nicht leicht, zu eindeutigen Informationen zu kommen. So war es auch im Falle I.»<br />
Der nach den Grundsätzen Siegfrieds ideale Pflegeplatz war es also nicht, den dieser<br />
– vielleicht etwas überstürzt – selbst vermittelt hatte, und sein Verhältnis zu den als<br />
Pflegeeltern fungierenden Geschwistern blieb in der Folge nicht weniger zwiespältig<br />
als jenes zum Mündel selbst. Bei aller verschiedentlich an ihre Adresse gerichteten<br />
Anerkennung <strong>für</strong> die von ihnen geleistete Erziehungsarbeit konnte er sich im Konfliktfall<br />
Dritten gegenüber handkehrum sehr abschätzig äussern. «Man muss sich<br />
schon bald fragen, wer dümmer ist, B. oder seine Pflegefamilie», reagierte er beispielsweise<br />
auf deren etwas umständliche, nichtsdestotrotz begreifliche Widerstände<br />
gegen seine Heim-Pläne <strong>für</strong> sein Mündel. Einmal meinte er gar: «Ich sehe jetzt leider<br />
zu spät, dass ich diesen Leuten ein Kind nicht hätte übergeben sollen. Sie meinen es<br />
gewiss ganz gut, sind aber in ihrer Denkweise doch recht egoistisch und primitiv.»<br />
Selbstverständlich kann und soll hier kein Urteil darüber abgegeben werden, wie gut<br />
oder schlecht die Pflegefamilie ihren Aufgaben im Verlauf der siebeneinhalb Jahre<br />
nachkam, während derer B. K. in ihrer Obhut war. Tatsache ist, dass sich B. K. dort<br />
auch später wohl fühlte. Einiges deutet auf der anderen Seite aber doch darauf hin,<br />
dass die beiden Geschwister im Umgang mit ihrem nicht ganz einfachen Schützling<br />
oft überfordert waren. Auch der Versuch einer Adoption, zu der Siegfried sogar<br />
Hand geboten hätte, scheiterte letztlich an ihnen selbst. Öfters wandten sie sich sogar<br />
an Siegfried mit der Bitte, «ihren» Buben zurechtzuweisen, weil sie dazu nicht mehr<br />
imstande wären. Zwar setzten sich die Geschwister wiederholt <strong>für</strong> ihn ein und<br />
sparten später auch nicht mit Kritik an Siegfrieds Erziehungsmethoden qua Heim –<br />
einmal weigerten sie sich, B. K. nach einem Urlaub ins Heim zurückzugeben –, doch<br />
konnten oder wollten sie sich letztendlich nicht durchsetzen bzw. waren insgesamt<br />
zu schwach gegenüber ihrem Schützling wie dessen Vormund.<br />
Der Wunsch nach einem Kind scheint derart stark gewesen zu sein, dass sie – kaum<br />
war ihnen «ihr» Bub weggenommen und ins Heim gesteckt worden – gleichsam um<br />
Nachschub bettelten. Finanziell interessant jedenfalls war ein Pflegekind sicherlich<br />
nicht. Zwar kamen Pro Juventute und Vormundschaftsbehörden <strong>für</strong> Kleidung und<br />
andere Auslagen auf, doch gibt es keine Hinweise darauf, dass die Pflegefamilie<br />
darüber hinaus auch noch ein Kostgeld bezogen hätte. Lediglich einmal schimmert<br />
eine allerdings etwas diffuse utilitaristische Haltung durch, als die Pflegeeltern offen<br />
ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sich ihre erzieherische Arbeit eines Tags<br />
bezahlt machen werde: «Und es würde uns freuhen», schreiben sie Alfred Siegfried,<br />
«einmal etwas hilfe zu erhalten <strong>für</strong> alle Mühe und Sorge.»<br />
*<br />
War es bei der Pflegefamilie noch die potentielle Arbeitskraft B. K.s, so sahen dann<br />
die Dinge diesbezüglich völlig anders aus bei Familien, die zugleich als Arbeitgeber<br />
fungierten. Besonders bei Bauern war die billige Arbeitskraft der Pro Juventute in<br />
der Mitte der fünfziger Jahre offensichtlich sehr begehrt. 281 Die Bauernfamilie, bei<br />
der der halbwüchsige B. K. über eineinhalb Jahre als Knecht <strong>für</strong> Fr. 40.– Lohn im<br />
Monat verdingt war, setzte alle Hebel in Bewegung, um zu einem Ersatz <strong>für</strong> den<br />
wegziehenden B. K. zu kommen. Die Bezahlung eines Restbetrags von etwas über<br />
Fr. 20.– <strong>für</strong> B. K.s Steuern dagegen überliess sie dankend der Pro Juventute. Einen<br />
281 Ähnliches, ja eigentlicher Missbrauch der Pflegekinder als billige Arbeitskraft und Sündenbock<br />
zugleich wird auch in Huonker, Fahrendes Volk, 233 berichtet.