Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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176 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
Bertogg, der 1950 eindringlich die Gefahr der «Verkesslerung» (also des Abgleitens<br />
in jenische Lebensart) braver Bauernsöhne durch die Heirat mit einer «Vagantenschönen»<br />
betonte.<br />
Für seine «Verdienste» in diesem Bemühen heischte Siegfried nicht nur den Lohn<br />
von den Mächtigen, sondern den Beifall der ganzen Nation als staatspolitisch verantwortungsbewusster<br />
Volkserzieher. Dass er sich wie einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
in Gemeinden und Bezirken je nach Umständen eugenischer und rassenhygienischer<br />
Modellvorstellungen bediente, war <strong>für</strong> ihn Mittel zum Zweck und natürlich<br />
auch ein Anliegen der von rassistischen, dem Nationalsozialismus nahestehenden<br />
Ideologien überzeugten Psychiater und politischen Propagandisten. Aufgrund<br />
schriftlicher und mündlicher Äusserungen von Gemeindebehörden muss ihm bewusst<br />
gewesen sein, dass je nachdem mit dem Ansprechen tiefsitzender antiziganistischer<br />
und xenophober Reflexe und Vorurteile vor Ort ein Klima angeheizt wurde,<br />
in dem dann oft ganz andere Probleme im lokalen Zusammenleben (etwa Erbstreitigkeiten<br />
und Ehrhändel) «gelöst» wurden. Zur Hauptsache aber mobilisierte er die<br />
Unterstützung von aussen nicht mit antiziganistischen Parolen, sondern mit seinen<br />
geschickten Appellen an Mitleid und Hilfsbereitschaft. Was gegen aussen als Hilfe<br />
und echte Fürsorge dargestellt wurde, war im Innern harte und konsequente Disziplinierung<br />
«auffälliger» und schlecht integrierter Bürgerinnen und Bürger. Ohne<br />
Zweifel sind damit viele gutwillige und hilfsbereite Menschen, die in der Aktion ein<br />
Werk der Nächstenliebe sahen, in zynischer Weise getäuscht worden.<br />
Vor diesem Hintergrund unumgänglich ist eine Präzisierung der oft geäusserten<br />
Feststellung, das «Hilfswerk» habe eindeutig nationalsozialistisches Gedankengut<br />
umgesetzt. Es bestehen keine Zweifel, dass Überlagerungen mit ideologischen Elementen<br />
rassistischer, eugenischer und nationalistischer Prägung («Rasse», «Blut»,<br />
«Boden», «Volk[sgemeinschaft]») bei einzelnen Personen im Zusammenhang mit<br />
dem «Hilfswerk» immer wieder feststellbar sind, ebenso wie es schliesslich auch in<br />
der übrigen Bevölkerung manche Sympathisanten und auch überzeugte Nationalsozialisten<br />
gegeben hat. Die genauen Zusammenhänge, die Art und Weise der ideologischen<br />
Beeinflussung, die ja durchaus nicht einseitig war (man denke etwa an die<br />
Rolle einzelner Schweizer Psychiater bei der Entwicklung der nationalsozialistischen<br />
Rassenpolitik), müsste noch genau untersucht werden. Dennoch sollte das «Hilfswerk»<br />
nicht zu ausschliesslich und zu eingleisig in diesen Dunstkreis gezogen werden.<br />
Ebensosehr ist dieses nämlich im Zusammenhang zu sehen mit einem (vorläufig<br />
letzten) Schub staatlicher Integration von Randständigen, die sich aufgrund ihrer<br />
Nichtsesshaftigkeit und auch durch ihr nicht-konformes Verhalten dieser Integration<br />
immer wieder entzogen hatten. Dieses Integrationsproblem lässt sich bis zur Heimatlosen-Problematik<br />
des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Nicht zufällig steht der<br />
Kanton Graubünden, dessen staatliche Integration und Zentralisierung traditionell<br />
besonders schwach entwickelt war, im Vordergrund; selbstverständlich spielen hier<br />
auch noch andere, soziale Elemente wie die Ein- und Auswanderungstradition eine<br />
wichtige Rolle. Dass diese Entwicklung sich erst so spät und da<strong>für</strong> in derart brutaler<br />
sozialer Härte vollzog, hat seine Voraussetzungen in den spezifischen Eigenheiten<br />
eidgenössischer Sozial-, Minderheiten- und Bürgerrechtspolitik, deren Hauptmerkmal<br />
der relativen Rückständigkeit bis heute nicht überwunden ist. Dieser zu einem<br />
guten Teil hausgemachte Charakter des gesellschaftlichen Umfelds, in dem das<br />
«Hilfswerk» zu verorten ist, muss entschieden betont werden und ist sowohl bei der<br />
Parallelisierung mit den nationalsozialistischen Verbrechen wie auch bei Verglei-