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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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58 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />

Lebensaufgabe oder ein zentrales gesellschaftliches Problem. All das heisst natürlich<br />

aber nicht, dass diese Instanzen den Fahrenden besonders freundlich gegenübergestanden<br />

wären. Meist wurden diese <strong>für</strong> minderwertig gehalten, ihre Lebensweise verachtet.<br />

In Gemeinden, die besonders viele jenische Bürger hatten, war die Stimmung<br />

häufig sehr angespannt bis feindselig. «Ganze Banden von M. und N. halten dann<br />

Siesta im Hause S. und lassen das Hundefleisch wohlschmecken, bis der Gemeindepräsident<br />

sie zur Gemeinde hinaus treibt», hielt eine Fürsorgerin 1953 fest und<br />

beschrieb damit nicht nur das gespannte Verhältnis zwischen Gemeindebehörden<br />

und Fahrenden, sondern zeichnete auch das dazugehörige Bild von letzteren. 156<br />

Siegfried war sich dieser unterschiedlichen Interessen bewusst und trat gerade deshalb<br />

<strong>für</strong> die Schaffung einer Art «Berufsvormundschaft» ein, «deren Wirkungsfeld<br />

weder durch Kantonsgrenzen noch durch örtliche Zuständigkeiten gehemmt war».<br />

Als Fortschritt auf dem Weg der «Verwirklichung unseres Gedankens» und Resultat<br />

seiner diesbezüglichen «Vorarbeit» wertete er 1953 die «Schaffung besonderer<br />

Amtsvormundschaften in den Heimatkantonen der Kinder des fahrenden Volkes». 157<br />

Selbst <strong>für</strong> einen Berufsvormund war es laut Siegfried noch schwierig genug, hinter<br />

den herumziehenden Leuten herzujagen und von Behörde zu Behörde zu rennen, um<br />

etwa den Eltern die elterliche Gewalt entziehen zu können.<br />

Das «Hilfswerk» nutzte die unterschiedlichen und in der Regel eng begrenzten Interessen<br />

der einzelnen Behörden geschickt aus, um seinen eigenen Einfluss auszuweiten.<br />

Das eigene Netz von lokalen und regionalen Pro-Juventute-Fürsorgestellen steigerte<br />

die Effizienz und stellte die Einflussnahme auf allen Ebenen sicher.<br />

Siegfried selbst sprach zwar von der «Gefahr», «wenn sozusagen ein einzelner<br />

Mensch über (zeitweise) mehrere hundert Menschenschicksale nicht nur wachen,<br />

sondern weitgehend auch entscheidende Anordnungen treffen muss». Der Leiter des<br />

«Hilfswerks» unterstehe aber «selbstverständlich» in jedem einzelnen Fall irgendeiner<br />

Vormundschaftsbehörde. 158 Doch genau diese Kontrolle hat in der Regel nicht<br />

funktioniert, sei das, weil die Behörden dem «Hilfswerk» vollständig vertrauten, sei<br />

das, weil sie einfach froh waren, dass jemand ihnen die Arbeit abnahm. Am Beispiel<br />

des in Kapitel 4 ausführlich geschilderten Falles wird klar, dass die Aufsicht über<br />

das «Hilfswerk» durch die Behörden gering bis nichtexistent war, dass letztere in der<br />

Regel unbesehen absegneten, was ersteres veranlasst hatte, und dass jedes eigene<br />

Engagement <strong>für</strong> die Betroffenen fehlte.<br />

Erst diese auch bei anderen Institutionen und bei Heimen fehlende Kontrolle ermöglichte<br />

es Siegfried und seinem «Hilfswerk», eine solche Machtposition auf- und auszubauen<br />

und nach Belieben zu schalten und zu walten. In diesem unkontrollierten,<br />

dunklen Dreieck zwischen Pro Juventute, Gemeinden und privaten Institutionen<br />

«verschwanden» die Kinder. Und in diesem Dickicht verhedderten sich auch die<br />

übrigen Beteiligten, die Spender, Pflegefamilien und Lehrmeister, die – oft guten<br />

Willens und voller Mitleid – helfen wollten, die Folgen ihrer Hilfsbereitschaft aber<br />

nicht realisierten und den schönen Worten der «Hilfswerk»-Publikationen Glauben<br />

156 Brief der Bezirks<strong>für</strong>sorgestelle Oberland II an das Sanitätsdepartement in Chur, 7. Mai 1953,<br />

BAR J II.187, 201.<br />

157 PJA A 30 Stiftungsrats-Sitzungen, Ordner 13: 1952–1954, Jahresbericht 1952/53 zuhanden der<br />

Stiftungsrats-Sitzung vom 9. Juli 1953, 21; ob und allenfalls wo 1952 tatsächlich besondere<br />

Amtsvormundschaften eingerichtet wurden, müsste abgeklärt werden.<br />

158 Siegfried, Kinder, 1963, 22.

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