Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 171<br />
7. Bilanz und Massnahmen<br />
7.1. Bilanz<br />
7.1.1. Betroffene<br />
Die im Bundesarchiv aufbewahrten Akten des von der Pro Juventute 1926 bis 1973<br />
geführten «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse» enthalten zahlreiche Informationen<br />
zur Erfassung und Betreuung von rund 600 schweizerischen Kindern und Jugendlichen,<br />
die in allererster Linie als Betroffene zu gelten haben. Die erstmals aussenstehenden<br />
Wissenschaftlern in ihrer Gesamtheit zugänglichen Akten bestätigen<br />
eine schon lange geäusserte Vermutung mehr als deutlich: Vielen heranwachsenden<br />
Menschen in schwierigen Lebenssituationen ist vom «Hilfswerk» nicht <strong>für</strong>sorglich<br />
geholfen, sondern durch schwere Demütigungen, durch aktive Diskriminierung und<br />
mit unsäglichem psychischem und physischem Zwang grosses Unrecht angetan,<br />
wenn nicht allergrösster Schaden zugefügt worden. Im übrigen bleibt häufig unbeachtet,<br />
dass zu den Betroffenen nicht nur die Kinder, sondern auch Mütter, Väter und<br />
Verwandte, in einem etwas anderen Sinne durchaus auch gutwillige Pflegeeltern und<br />
andere hilfsbereite Menschen gehören.<br />
Die pauschale Feststellung, dass das Negative allfällig vorhandene bzw. behauptete<br />
positive Wirkungen des «Hilfswerks» bei weitem übertrifft, ist auch dann erlaubt,<br />
wenn die verarbeiteten Quellen nur einen bestimmten Ausschnitt des Geschehens<br />
wiedergeben. Um das ganze Ausmass des Schreckens und des erlittenen Unrechts im<br />
juristischen und moralischen Sinne deutlich zu machen, wären tatsächlich alle<br />
«Hilfswerk»-Akten sowie weiteres schriftliches Material bei andern Institutionen<br />
und Amtsstellen <strong>für</strong> die Untersuchung auszuwerten. Vor allem müssten auch Materialien<br />
und Aussagen der Betroffenen und der Beteiligten systematisch miteinbezogen<br />
werden.<br />
Eines der wichtigen Probleme der vorliegenden Untersuchung liegt darin, dass Jenische<br />
und Fahrende («Vaganten» in der Sprache des «Hilfswerks») schweizerischer<br />
Herkunft, die von der Pro Juventute nicht erfasst wurden, auch in diesen Akten nicht<br />
auftreten. Wer als «Fahrender», «Jenischer» oder «Vagant» zu betrachten sei, wurde<br />
durch die Täter, durch die Leiter und Leiterin sowie Helfer des «Hilfswerks» und die<br />
zuweisenden Gemeindebehörden, definiert. Die von der Pro Juventute erfasste<br />
soziale Gruppe ist deshalb nicht so einfach zu umschreiben und enthält in bezug auf<br />
Herkunft, soziale Stellung oder gar ethnische Zuordnung mehrere Schnittmengen.<br />
Die damit verknüpften Fragen, insbesondere jene nach der sozialen und historischen<br />
Konstituierung bzw. Konstruktion von ethnischen Kategorien, bedürfen der weiteren<br />
Untersuchung.<br />
7.1.2. Verantwortlichkeiten<br />
Die stereotype Berufung auf den sogenannten «Zeitgeist» darf nicht dazu herhalten,<br />
individuelle Vergehen gegen Recht und Menschenwürde zu rechtfertigen und eine<br />
erhebliche Mitschuld einzelner Individuen, Gruppen und Organisationen zu ver-