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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 149<br />

ungeheure Behördenmacht versammelt, sondern es fanden sich auch praktisch alle<br />

gesellschaftlich relevanten Kräfte vertreten. Auch in der ausführenden Stiftungskommission<br />

wurde auf eine gut abgestützte Mischung der Mitglieder geachtet. Diese<br />

breite Abstützung der Pro Juventute hatte aber auch zur Folge, dass eine Kontrolle<br />

von aussen stark abgeschwächt wurde.<br />

Trotz der breiten Abstützung ist nicht zu übersehen, dass es einzelne Personen<br />

waren, die die Stiftung sehr stark prägten. In erster Linie zu nennen ist hier Ulrich<br />

Wille jun., der 47 Jahre lang die Stiftungskommission präsidierte. Diese diente zwar<br />

eigentlich nur dem Stiftungsrat zu und bereitete dessen Sitzungen vor. Da der Stiftungsrat<br />

aber sehr gross und damit recht unbeweglich war und nur selten, meist nur<br />

einmal jährlich, tagte, fielen die wichtigen Entscheide in der Regel in der Stiftungskommission.<br />

«Ihr obliegt die Entscheidung über neue Aufgaben der Stiftung, sie<br />

bereitet die Anträge <strong>für</strong> die Aufgaben des Stiftungsrates vor: Rechnungserstellung,<br />

Jahresbericht. Die Stiftungskommission wählt die Bezirkskommissionen und überwacht<br />

deren Tätigkeit. Sie wählt den Zentralsekretär auf vier Jahre und überwacht<br />

dessen Tätigkeit; sie wählt auch dessen Mitarbeiter auf seinen Vorschlag hin, genehmigt<br />

deren Anstellungsverhältnisse.» In dieser Auflistung von Heinrich Hanselmann,<br />

dem zweiten Zentralsekretär der Pro Juventute und späteren Leiter des Heilpädagogischen<br />

Seminars Zürich, zeigt sich die führende Rolle der Stiftungskommission in<br />

aller Deutlichkeit. 304<br />

Die Gründung des «Hilfswerkes <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse» durch die Pro<br />

Juventute brachte deshalb auch eine Dimension ins Spiel, die weit über diejenige<br />

«normaler» Vereine und Stiftungen hinausgeht. In der Pro Juventute waren praktisch<br />

alle wichtigen Institutionen des Landes vertreten, ohne dass ein politisches Gegengewicht<br />

oder ein Kontrollorgan bestanden hätte. Die Vertreter der Stiftung waren<br />

daher in gewissem Sinn mächtiger als die eigentlichen Behördenvertreter, die mit der<br />

Kontrolle der vorgesetzten Instanzen, der Parlamente und der Gerichte zu rechnen<br />

hatten. Ergänzt wurde die Machtstellung der Pro Juventute durch die dezentrale<br />

Organisation in Bezirks- und Ortssekretariate. Diese wurden häufig geführt von Personen,<br />

die ebenfalls zu den Einflussreichen und Tonangebenden gehörten, meist von<br />

Pfarrern oder Lehrern.<br />

Wenn sich die Pro Juventute einer kleinen, einflusslosen Randgruppe wie den Fahrenden<br />

annahm, so glich das einem Kampf zwischen Goliath und David, wobei letzterem<br />

hier aber die Steinschleuder fehlte. Alle Mittel der Macht lagen auf der einen<br />

Seite, die andere war ganz und gar hilflos. Sie verfügte weder über irgendwelchen<br />

Einfluss im politischen und gesellschaftlichen System noch über eine Lobby oder<br />

eigene Leute, die sich als Anwälte, Journalisten oder in anderer Form <strong>für</strong> ihre<br />

Anliegen hätten einsetzen können. Ein krasseres Ungleichgewicht lässt sich wohl<br />

kaum vorstellen. Und in der Tat gibt es – mit Ausnahme der Sinti und Roma, die<br />

aber in der Schweiz kaum vertreten waren – wohl keine andere Minderheitengruppe,<br />

die den Angriffen der Mehrheit derart schutzlos ausgeliefert war.<br />

Das Ansehen der Pro Juventute führte zusammen mit der fehlenden Kontrolle dazu,<br />

dass die Verteter der Stiftung schalten und walten konnten, wie es ihnen beliebte.<br />

Man kann von einer Machtfülle sprechen, wie es sie in einem demokratisch kontrollierten<br />

Staat eigentlich nicht geben dürfte. Verdeutlicht wird dies in der Person von<br />

304 Hanselmann, Heinrich, Dem Gedenken von Oberstkorpskommandant Ulrich Wille, Präsident der<br />

Stiftungskommission 1912–1959, Zürich 1959, 18.

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