Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 61<br />
eine höhere soziale Stufe, wenn die fahrenden Familien nach und nach in den<br />
sesshaften aufgehen sollen.» 165<br />
Jörger wirkte auch auf der politischen Ebene, indem er etwa an kantonalen Instruktionskursen<br />
<strong>für</strong> Armenpfleger seine Ansichten zur «Vagantenfrage» weitergab. 166<br />
Hier diskutierte er auch andere Lösungsvorschläge als die der Kindswegnahme, z. B.<br />
Deportation und Heiratserschwerung. Erstere hielt er <strong>für</strong> undurchführbar, und bei<br />
zweiterer würden die rechtlichen Grundlagen fehlen. Unter Bezugnahme auf den<br />
1923 vom Grossen Rat Graubündens erstmals bewilligten «Kredit zur Bekämpfung<br />
des Vagantentums» (letztmals 1978 [!] bewilligt) führte er aus: «In den Grossratsverhandlungen<br />
wurde aber ganz richtig die Erziehung der Spenglerjugend zu sesshaften,<br />
arbeitsamen und ehrbaren Menschen als das mögliche und erstrebenswerte Ziel hingestellt,<br />
und es wurden da<strong>für</strong> Mittel in bescheidenem Masse zur Verfügung gestellt.<br />
Die Erziehung dieser Jugend ist nun allerdings eine schwierige Aufgabe, wie Sie aus<br />
eigener Erfahrung wissen und meinen Äusserungen entnehmen können. Es sind da<br />
innere und äussere Widerstände zu überwinden. Zumal werden sich die Eltern renitent<br />
zeigen, ihre Kinder nicht geben wollen oder sie aus den Erziehungsstätten weglocken.<br />
Der anererbte Wandertrieb der Jungen wird ihnen hierin zu Hilfe kommen.<br />
Aber unheilbar ist diese Krankheit nicht, und ihre Behandlung ist des Schweisses der<br />
Edlen wert. Mir ist doch eine Anzahl von Beispielen bekannt, wo Kesslerjugend in<br />
gutem Milieu zu sesshaften, ehrbaren Menschen aufwuchs. Da ist z. B. ein Mädchen,<br />
dessen Eltern das Zuchthaus aufnahm, das bei einer braven Bauernfamilie Unterkunft<br />
und Erziehung fand. Herangewachsen, ging es statt an einen Dienstplatz in ein<br />
Kloster und wurde eine glückliche Nonne. Es hat den Beweis erbracht, dass der<br />
Wandertrieb auch ins gerade Gegenteil verkehrt werden kann. Auch die Erfahrungen<br />
der Armenanstalt Obervaz sind, soviel mir bekannt, zu einem Drittel befriedigende<br />
gewesen.» 167<br />
Jörger war wohl der wichtigste Vordenker und Ideenlieferant <strong>für</strong> das «Hilfswerk <strong>für</strong><br />
die Kinder der Landstrasse». Siegfried zitierte ihn in seinen ersten NZZ-Artikeln von<br />
1926, und 1963 fügte er seinem Buch eine Bibliographie der bekannten deutschsprachigen<br />
Literatur bei, «trotzdem wir diese, ausser der immer noch grundlegenden<br />
Darstellung von Jörger, hier kaum benützt haben». 168<br />
In verschiedenen psychiatrischen Schriften der Zeit wurden häufig eugenische Argumente<br />
vorgebracht, um die «erbliche Minderwertigkeit» von sogenannten Randgruppen<br />
zu beweisen. Diese sei aber heilbar durch gezielte «Rassenhygiene», sei das<br />
durch Ausmerzung des schlechten Erbgutes oder durch dessen Vermischung mit<br />
gutem. Massnahmen wie Kindswegnahme, Verwahrung oder Sterilisierung dienten<br />
dieser Verbesserung des Erbgutes. 169<br />
165 Ebda., 83.<br />
166 Jörger, Josef, Die Vagantenfrage, in: Der Armenpfleger 1925, Nr. 2, 17–21, Nr.3, 25–30, Nr. 4,<br />
33–36.<br />
167 Ebda., 1925/4, 35.<br />
168 Siegfried, Kinder, 1963, 5; noch 1973 empfahl Clara Reust Ritters «Psychiatrische Familiengeschichten»<br />
einem Arzt zur Lektüre, vgl. den Brief vom 8. Aug. 1973, BAR J II.187, 466.<br />
169 Huonker, Vorgeschichte, 9; vgl. neuerdings auch Wecker, Regina, Eugenik – individueller Anlass<br />
und nationaler Konsens, in: Krisen und Stabilisierung. Die Schweiz in der Zwischenkriegszeit,<br />
hg. v. Sebastien Guex u. a. (Die Schweiz 1798–1998: Staat – Gesellschaft – Politik 2) Zürich<br />
1998, 165–179.