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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse 73<br />

Während er sich nach aussen beklagte, wie schwer und undankbar seine Aufgabe sei<br />

(«Sie stellen sich nicht vor, was es bedeutet, sich Jahr und Tag mit solchen Leuten<br />

herumschlagen zu müssen») 210 , zeigte er im Alltag eine ruhelose Energie und ein Engagement,<br />

das weit über ein normales Berufsethos hinausgeht. Regelmässig schrieb<br />

er in seinen Berichten, <strong>für</strong> seine schwierigen, häufig «anormalen» Fälle würden sich<br />

kaum gute Vormünder finden. «Ich muss daher oft Jahre warten, bis ich zurücktreten<br />

kann.» 211 In Wirklichkeit aber unternahm er in der Regel alles, um neue Kinder unter<br />

seine Vormundschaft zu bekommen und ältere unter Vormundschaft behalten zu<br />

können. Zeitweise hatte er bis zu 250 Vormundschaften inne. Besuche stattete er<br />

Mündeln oft auch in seiner Freizeit, etwa an Sonntagen, ab. 212<br />

Auch sein Verhalten gegenüber Pflegeeltern und seine Vorbehalte gegenüber Adoptionen<br />

weisen darauf hin, dass er die mit seiner Stellung verbundene Macht genoss.<br />

Er schreckte vor Drohungen und eindeutigen Fällen von Nötigung nicht zurück,<br />

nutzte seine Macht in einem erschreckenden Masse aus. 213<br />

Nach seiner Pensionierung bezeichnete er seine Arbeit als «fast zu intensive Fürsorgetätigkeit»,<br />

die seiner Frau viel Mühe und Sorge gebracht habe. Er lese gegenwärtig<br />

zum zweiten Mal die Lebensgeschichte von Friedrich von Bodelschwingh. 214 «Im<br />

Vergleich mit seiner Gestalt, zeigt sich mir der Massstab, mit dem ich das mir gespendete<br />

Lob betrachten kann. Was ist doch unsereiner <strong>für</strong> ein armseliger Stümper<br />

im Angesicht eines solchen Menschen, der weder wenn noch aber kennt!» 215<br />

In der Öffentlichkeit betonte Siegfried, wie wichtig es <strong>für</strong> eine gute Beziehung zwischen<br />

Heimleitung oder Pflegeeltern und Fürsorger wie zwischen diesem und dem<br />

Mündel sei, dass immer dieselbe Person Besuche mache. In Wirklichkeit aber isolierte<br />

er die Kinder möglichst stark, um so leichter über sie verfügen zu können. In<br />

seinem 1963 veröffentlichten Rückblick «Kinder der Landstrasse» bemerkte er, da er<br />

30 Jahre lang meist der einzige Besucher der Kinder gewesen sei, habe er «bescheidenen<br />

Anteil an dem guten Gelingen so mancher Verpflanzung». 216 Mit der «Verpflanzung»<br />

mag er recht haben, wenn er aber meist der einzige Besucher gewesen<br />

war, so sagt dies alles über die von ihm betriebene Integrationspolitik, die faktisch<br />

auf eine Isolation hinauslief. Die systematische Verhinderung von familiären Kontakten<br />

wurde ergänzt durch eine weitgehende Isolierung von der Umwelt insgesamt.<br />

Pflanzen, denen das Erdreich derart entzogen wird, haben – um beim siegfriedschen<br />

Bild zu bleiben – kaum Chancen, gut zu gedeihen und zu wachsen.<br />

Die auffallend häufigen Verlegungen der Kinder, die von Heim zu Heim, von Pflegeort<br />

zu Pflegeort «herumgeschupft» wurden – oft mehrmals jährlich – lassen den<br />

210 Brief Siegfried an Herrn G. P. in T. JU, 7. Jan. 1954, BAR, J II.187, 466.<br />

211 Siegfried, Jahresbericht 1952 des Hilfswerkes <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse, 26. Jan. 1953,<br />

BAR, J II.187, 1201.<br />

212 Siegfried, Kinder, 1963, 4, 31.<br />

213 Vgl. dazu auch Kapitel 4.<br />

214 Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910), evang. Theologe, seit 1872 Pastor und Leiter der Anstalt<br />

<strong>für</strong> Epileptiker in Bethel. Die Bodelschwinghschen Anstalten entfalteten sich unter seiner<br />

Leitung zum grössten Hilfswerk der deutschen Inneren Mission. Sein Sohn gleichen Namens<br />

(1877–1946) und ebenfalls Theologe übernahm nach dem Tod seines Vaters die Gesamtleitung<br />

der Bodelschwinghschen Anstalten.<br />

215 Brief von Siegfried an Zentralssekretär Ledermann, 20. Febr. 1963, BAR, J II.187, 1239.<br />

216 Siegfried, Kinder, 1963, 31.

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