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Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte

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66 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />

1968 kam Fontana im Gegensatz zu anderen Autoren zu dem Schluss, das Fahren<br />

(Vagantität) sei nicht rein erblich bedingt. Es werde vielmehr durch liederliche<br />

Frauen in bereits fahrenden Sippen verstärkt oder gar in vorher sesshafte Familien<br />

eingeschleppt. Die Wegnahme der Kinder, wie sie die Pro Juventute praktizierte, sah<br />

er als beispielhafte Lösung.<br />

Typisch an Fontana ist, dass er die 22 Fallbeispiele der Sippe, die er untersuchte, gar<br />

nie selber sah und nie mit den einzelnen Personen sprach, sondern sich ausschliesslich<br />

auf Akten abstützte, insbesondere diejenigen des «Hilfswerks <strong>für</strong> die Kinder der<br />

Landstrasse». Aufgrund solcher Akten diagnostizierte er beispielsweise bei einem<br />

fünfjährigen Kind «bereits deutliche Verwahrlosungserscheinungen», einen «Trotzkopf»<br />

und «Unaufrichtigkeit». Mit 15 Jahren «strich [sie] mit Burschen herum, war<br />

frech und unsauber. Bis zur Volljährigkeit war sie in verschiedenen Anstalten, wo<br />

immer wieder ihre Frechheit und ihr zänkisches Wesen hervorgehoben wurden. In<br />

Freiheit versagte sie immer wieder. Schliesslich wurde sie begutachtet, und man bezeichnete<br />

sie als debil, haltlos und moralisch schwachsinnig. Sie sollte nach Art. 369<br />

ZGB bevormundet werden, doch entzog sie sich durch eine Heirat 1945 dieser<br />

Massnahme. Ihr Mann war ein Zuhälter; es kam immer wieder zu Streitigkeiten, und<br />

schliesslich wurde die Ehe 1952 geschieden.» 182<br />

Über die weggenommenen Kinder legte das «Hilfswerk» Akten an, gab diese weiter<br />

<strong>für</strong> «wissenschaftliche Untersuchungen» und berief sich später wiederum auf diese<br />

Untersuchungen, um sein Vorgehen zu rechtfertigen. Dieses gegenseitige Stützen<br />

und Abschreiben zeigt sich auch in einem Brief von Dr. med. G. Pflugfelder, damals<br />

noch Oberarzt der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt «Waldhaus», Chur. Er dankte<br />

<strong>für</strong> die Zustellung des Buches «Kinder der Landstrasse» von Siegfried und bestellte<br />

noch zwei Exemplare, «da die Arbeit <strong>für</strong> die Bündner Psychiater dauernd von grossem<br />

Wert sein wird». 183 Auch die «Heilpädagogisch-psychiatrische Kinderbeobachtungs-<br />

und Therapie-Station Oberziel» in St. Gallen fand die Schrift «sehr zutreffend<br />

geschrieben». «Herr Dr. David sel. hielt immer sehr viel auf Herrn Dr. Siegfried,<br />

wenn wir Kinder der Landstrasse zu betreuen hatten, konnten wir dies selber erleben.<br />

Bei wichtigen Entscheiden orientierte er sich immer dort. Der selbstlose Einsatz von<br />

Herrn Dr. Siegfried, in dieser Sache, hatte es ihm angetan.» 184<br />

3.10. Öffentlichkeit<br />

Anhand der Akten im Bundesarchiv lässt sich nur wenig über die Haltung der<br />

Öffentlichkeit zum «Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse» sagen. Hauptsächlich<br />

begegnen – etwa in Zeitungsartikeln – ohnehin nur Haltungen, während die alltägliche<br />

Praxis vor Ort weitgehend ausgeblendet bleibt. Hinzu kommt, dass die fassbaren<br />

Meinungsäusserungen gerade mit Argumenten des «Hilfswerks» selbst stark imprä-<br />

182 Fontana, Benedikt, Nomadentum und Sesshaftigkeit als psychologische und psychopathologische<br />

Verhaltensradikale: Psychisches Erbgut oder Umweltprägung. Ein Beitrag zur Frage der Psychopathie,<br />

Diss. Bern 1968, 355.<br />

183 Brief 22. März 1963, BAR, J II.187, 1226.<br />

184 Brief 3. April 1963, BAR, J II.187, 1226.

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