Text - Beratungsstelle für Landesgeschichte
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76 Leimgruber / Meier / Sablonier • Kinder der Landstrasse<br />
lung «Schulkind» kündigte (nach einem Jahr aber wieder zur Pro Juventute zurückkehrte).<br />
Wie bei Siegfried zeigen sich auch bei Reust sehr dominante Züge. Bei ihr<br />
stehe nicht im Vordergrund, «was zum Wohle des Kindes, oder in erster Linie im<br />
Interesse des Kindes» sei. «An ein Verstehen, an Wohlwollen, an positive Seiten des<br />
Mündels [sei] nicht zu denken.» Dagegen heisse es immer nur: «Ich tue, ich sage, ich<br />
bestimme.» 225 Trotz dieser bestimmten Art des Auftretens wirkt Clara Reust im<br />
Spiegel der Akten wenig durchsetzungsfähig und von ihrer Aufgabe eher überfordert.<br />
Regelmässig verpasste sie Termine, musste gemahnt werden und vergass<br />
Dinge, klagte umgekehrt aber über Überlastung und mangelnde Unterstützung durch<br />
andere Stellen. 226<br />
Als das «Hilfswerk» schliesslich aufgelöst wurde, beschwerte sie sich über die «ungewisse,<br />
unklare Situation» 227 und fühlte sich – wohl nicht ganz zu unrecht – auch<br />
von ihren Vorgesetzten und den übrigen Pro-Juventute-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen<br />
verraten. In den letzten Sitzungen kam es zu «Meinungsverschiedenheiten»,<br />
weil sie im Zusammenhang mit Mündeln weiterhin Ausdrücke wie «Psychopath»,<br />
«unmögliches Verhalten», «sinnlose Geldverschwendung» benutzte, welche einigen<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht mehr behagten. Zudem wehrte sie sich<br />
gegen die Suche nach Lösungen oder dagegen, dass Kindern nun die Namen ihrer<br />
Eltern mitgeteilt wurden. «Sie habe ihre Arbeit 14 Jahre richtig getan, sie habe kein<br />
schlechtes Gewissen. Sie müsse teilweise ‹ausessen› was früher, vor ihrem Hiersein,<br />
eingebrockt worden sei. Sie habe nicht auf eine R. Strübin gewartet. Sie sei Vormund,<br />
sie entscheide, sie lasse sich keine Vorwürfe gefallen. Sie habe genügend gebüsst<br />
<strong>für</strong> Fehler, die von andern begangen worden seien.» 228 Sie war so überzeugt<br />
vom «Hilfswerk» und von ihrer Tätigkeit, dass sie die nun auch innerhalb der Pro<br />
Juventute aufkommende Kritik überhaupt nicht verstehen konnte. Eine Mitarbeiterin,<br />
die ihr bei der Abwicklung der letzten «Fälle» des «Hilfswerks» zur Seite stehen<br />
sollte, notierte auf einem Gesprächspapier handschriftlich: «Ich komme nicht an Frl.<br />
Reust heran. Was soll ich tun? Wie soll ich’s tun? Was mache ich falsch?» 229 Clara<br />
Reust schied schliesslich resigniert aus der Pro Juventute aus.<br />
225 Beiblatt zur Aktennotiz über die Besprechung vom 27. Aug. 1973 betreffend das Hilfswerk der<br />
Kinder der Landstrasse (offenbar von R. Strübin), BAR, J II.187, 1218.<br />
226 Im Jahresbericht 1960/61 zuhanden der Sitzung des Stiftungsrates vom 12. Juli 1961 schrieb<br />
Reust auf S. 23 zum «Hilfswerk»: «Wieviel Schreibereien, Telephonanrufe und persönliche Besuche<br />
es zum Beispiel braucht, bis wieder eine einfache Lehrstelle gefunden ist, […], ist kaum<br />
vorstellbar.» PJA A 30 Stiftungsrats-Sitzungen, Ordner 16: 1960–1962.<br />
227 Beiblatt zur Aktennotiz über die Besprechung vom 27. Aug. 1973 betreffend das «Hilfswerk der<br />
Kinder der Landstrasse», BAR, J II.187, 1218.<br />
228 Worauf Reust anspielte, wenn sie von den «Fehlern» anderer sprach, <strong>für</strong> die sie jetzt geradestehen<br />
müsse, ist nicht klar; Aktennotiz über die Besprechung vom 27. Aug. 1973 betreffend das<br />
«Hilfswerk der Kinder der Landstrasse», BAR, J II.187, 1218; in der gleichen Sitzung wurde unter<br />
anderem festgestellt, dass ein taubstummer Junge «gar nicht so unbildungsfähig sei, wie man<br />
bisher angenommen habe».<br />
229 Offenbar als Resultat eines Supervisiongespäches wurde ebenfalls handschriftlich hinzugefügt:<br />
«Sinnlos mit Frl. Reust: N. kenne Frl. Reust, sei schlimm.» Hilfswerk <strong>für</strong> die Kinder der Landstrasse,<br />
Stand Dez. 1972, Beschlüsse der Zentralsekretariats-Arbeitsgruppe vom 21. Nov. und 5.<br />
Dez. 1972, BAR, J II.187, 1218. – Als vermutlich die gleiche Mitarbeiterin in einem Gesprächspapier<br />
die Frage aufwarf: «Weshalb gelangte Frl. Reust in diese Abwehrstellung, wie könnte man<br />
ihr helfen, kann man überhaupt helfen?», fügte jemand handschriftlich hinzu: «nein»; Beiblatt zur<br />
Aktennotiz über die Besprechung vom 27. Aug. 1973 betreffend das «Hilfswerk der Kinder der<br />
Landstrasse», offenbar von R. Strübin, BAR, J II.187, 1218.